Gewitterstille
und etwas pummeligen Mutter gemein. Anna empfand Mitgefühl mit dieser Frau, hinter deren verputzter Fassade sie eine sehr einsame Seele vermutete.
Anna und Sophie warfen einige mitgebrachte Rosen auf den Sarg, bevor sie sich in die Schlange der Kondolierenden einreihten, die Frau Kessler die Hand reichen wollten.
Es waren die üblichen Beileidsbekundungen, die ausgesprochen wurden, um die Anteilnahme an dem von Petra Kessler zu betrauernden Verlust zu dokumentieren.
Direkt vor Anna in der Reihe stand Heide Martin, eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, die lange Jahre mit Frau Möbius befreundet gewesen war. Sie schien erschöpft von der Zeremonie, packte aber gleichwohl Petra Kesslers Hände und drückte sie fest.
»Es tut mir unendlich leid, aber es ist trotzdem schön, dass Luise ein so erfülltes Leben geführt hat und das Privileg hatte, im eigenen Heim sterben zu dürfen.«
»Danke«, erwiderte Petra Kessler gefasst, »ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen. Ich hoffe, Sie begleiten mich noch in das Café. Es wird uns allen guttun, uns ein wenig zu stärken.«
»Gern. Ich muss zugeben, ich bin wirklich ganz erschöpft.« Die alte Frau stützte sich auf ihren Stock, während sie sprach, und ihre graugrünen Augen wirkten trübe und matt. »Ich wundere mich, dass dein Mann dir in dieser Stunde nicht zur Seite stehen kann. Ich darf doch noch du sagen – oder?«, fügte sie hinzu. »Schließlich kannte ich dich schon, als du noch kaum laufen konntest.« Hei de Martin lächelte ihr Gegenüber freundlich an und sprach weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Deine Mutter hat ihn so sehr geschätzt. Ich hoffe, er ist nicht ernsthaft krank?«
Petra Kessler schien einen Moment nachzudenken. Die vertraute Art, mit der die Freundin ihrer Mutter sie ansprach, war ihr offenbar alles andere als angenehm.
»Nein, er …« Bevor sie ihren Satz beenden konnte, sackte Frau Martin plötzlich kreidebleich in sich zusammen. Zum Glück gelang es Anna, die alte Frau durch einen beherzten Griff unter die Arme abzufangen und vorsichtig auf den Boden gleiten zu lassen. Dr. Jung war sofort an ihrer Seite und fühlte ihren Puls. Für einige Augenblicke wich die stille Atmosphäre einem kleinen Tumult, und Heide Martin wurde von den Umstehenden umringt. Annas Befürchtung, dass die alte Dame einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten haben könnte, bewahrheitete sich zum Glück nicht.
Zur Erleichterung aller saß sie schon wenig später neben Anna und Sophie im Café Steinhusen und löffelte bereitwillig eine Brühe mit Eierstich. Anna und Sophie hatten ursprünglich nicht vorgehabt, sich den Trauergästen nach der Kirche noch anzuschließen. Frau Martin war jedoch erkennbar auf ihre Hilfe angewiesen, und so hatten sie an einem von zwei Sechsertischen in dem gediegenen, leicht altmodisch angehauchten Lübecker Kaffeehäuschen Platz genommen, das von jeher Frau Möbius’ Lieblingscafé gewesen war.
»Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte Anna, erleichtert darüber, dass die Wangen der alten Dame langsam wieder etwas Farbe bekamen und sie sich offenbar besser fühlte.
»Es ist mir unendlich peinlich, aber die Beerdigung war wohl einfach zu viel für meine Nerven.« Anna konnte gut verstehen, wie furchtbar es sein musste, all seine Freundinnen zu Grabe tragen zu müssen.
Zu Petra Kessler gewandt sagte Frau Martin: »Ich freue mich, dass ich dich – wenn auch unter diesen schrecklichen Umständen – mal wiedersehe, Petra. Du siehst gut aus. Kaum zu glauben, dass aus dem kleinen Mädchen von damals eine so schöne Frau geworden ist.«
Petra Kesslers Gesichtsausdruck ließ zweifelsfrei erkennen, dass ihr nicht daran gelegen war, in Kindheitserinnerungen zu schwelgen.
»Deine Mutter hat sich damals oft um dich gesorgt. Sie wusste, dass du es nicht leicht hattest.« Frau Martin tätschelte Petra Kesslers Hand, die diese ihr aber sofort entzog.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Petra Kessler mit ausdrucksloser Miene und stand auf. »Ich will mich nur kurz von Dr. Jung verabschieden.« Mit diesen Worten ging sie zu dem Arzt hinüber, der gerade seinen Regenmantel von der Garderobe nahm.
»Ich muss Petra später doch noch mal fragen, wo ihr Mann heute steckt«, sagte die alte Dame zu Anna.
»Vielleicht ist er beruflich verhindert«, vermutete diese.
Heide Martin nickte, man konnte ihr ihre Zweifel jedoch deutlich ansehen. »Auf jeden Fall muss er einen guten Grund haben. Er hat nämlich immer
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