Gewitterstille
duftende Haut seiner Brust und versuchte, sich diesen perfekten Moment in ihr Gedächtnis einzubrennen. Sie wollte keine Sekunde dieser Nacht vergessen. Jens hatte sie über die Reling hinunter in das Boot getragen, und es war ihr völlig gleichgültig, wem das Schiff gehörte und ob es ihnen erlaubt war, hier zu sein. Die kleine Schlafkoje, die rundherum mit dunklem Holz getäfelt war, schien sie wie eine Höhle zu umschließen, aus der sie nie wieder hinauswollte.
Jens hatte ihr davon vorgeschwärmt, wie es sein könnte, mit einem eigenen Schiff durch die Meere zu segeln und die Welt zu erkunden. Seine begeisterten Erzählungen hatten sie davongetragen, und es schien ihr, als sei sie Teil seines Traums geworden, so wie er schon lange Teil ihres Traums gewesen war. Sie hatte förmlich das salzige Wasser schmecken und die Sonne auf ihrer Haut spüren können, während sie in ihrer Vorstellung mit dem Boot durch das türkisblaue Mittelmeer gesegelt waren. Wenn sie träumte, blendete sie die Probleme, die mit ihrer Behinderung verbunden waren, völlig aus. Sie verdrängte jeden Gedanken daran, nicht in der Lage zu sein, sich allein auf einem Boot zu bewegen, geschweige denn, in einem Hafen an Land zu gehen. Doch während er im Halbdunkel der Kajüte zärtlich ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Schultern liebkost hatte, hatte dies alles keine Rolle gespielt. Sie war bereit, ihm in eine ungewisse Zukunft zu folgen und alles zurückzulassen. Die Einzige, die ihr den Abschied wirklich schwer machte, war Emily. An Anna wollte sie im Moment gar nicht denken. Ihre Worte hatten sie zu sehr verletzt und durcheinandergebracht. Wie konnte Anna nur einen so schrecklichen Verdacht gegen Jens hegen? Sie lag völlig falsch. Wie alle Erwachsenen, so hatte auch Anna sie enttäuscht. Merkte sie denn gar nicht, in welch furchtbare Lage sie Jens gebracht hatte? Und je mehr Sophie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, froh darüber sein zu müssen, dass sie Anna bald los war. Ihre ewigen Fragen über Sophies Wohlbefinden und Pläne, ihre Gefühle und Wünsche gingen ihr gehörig auf die Nerven. Sie wollte endlich frei sein. Jens hatte es vehement abgelehnt, sich der Polizei zu stellen. Natürlich hatte er Frau Möbius nicht umgebracht, das stand für Sophie außer Zweifel. Dennoch war sie nicht sicher, ob seine Entscheidung, einfach abzuhauen, richtig war. Aber mit einer Sache hatte er recht: Vermutlich würde ihm niemand mehr glauben, dass Frau Möbius ihm die Münzen geschenkt hatte. Die Dose nicht, so viel hatte er zugegeben, aber die Münzen. Er hat te nicht richtig nachgedacht und sich hinreißen lassen. Sophie wusste, dass das nicht richtig war, teilte aber seine Meinung, dass es ohnehin niemanden gab, dem die Dose wirklich zustand. Zu ihrer Tochter hatte Frau Möbius nie ein gutes Verhältnis gehabt, und Jens hatte sich immerhin eine lange Zeit um die alte Frau gekümmert. Er war schließlich für sie da gewesen, als sie Hilfe gebraucht hatte. Und darauf kam es in Sophies Augen an. Es ging darum, für jemanden da zu sein.
Sophie versuchte, die Erinnerung an ihre Mutter beisei tezuschieben. Zu kostbar war dieser Moment, um ihn durch Gedanken an die Frau verderben zu lassen, die sie verlassen hatte. Sophie war noch sehr klein gewesen und kaum mehr imstande, sich ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen. Sie wusste nur, welch schmerzliche Leere ihre Mutter in ihr hinterlassen und wie einsam sie sich gefühlt hatte, nachdem sie fort war. Manchmal wünschte Sophie, nach dem Tod ihres Vaters nicht erfahren zu haben, dass sie noch lebte. Sophie erinnerte sich an die Abende, in denen sie als Kind aus ihrem Bett auf den Fenstersims gekrabbelt war und von dort aus zu den Sternen hinaufgeschaut hatte. Sie war davon überzeugt gewesen, dass ihre Mutter der strah lendste Stern am Himmel war und über sie wachte. Mit ihrem Stern hatte sie mehr als ein Jahrzehnt lang ihre Ängste, Wünsche und Sorgen geteilt. Ihm hatte sie sich täglich anvertraut. Wie lächerlich erschien ihr das jetzt, wo sie wusste, dass die, die sie so lange für tot gehalten hatte, ein wunderbares Leben in Südfrankreich führte.
Wie groß war schon Jens’ Vergehen gegen das, was man ihr angetan hatte? Die Justiz hatte es ihrer Mutter gestattet, sich ungestraft davonzustehlen und sie mit all den offenen Fragen zurückzulassen. Jens dagegen sollte in einem Gefängnis versauern, nur weil er eine Tote bestohlen hatte? Je länger Sophie darüber nachdachte, umso sicherer war
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