Gezeiten der Liebe
Er hielt ein Glas in die Höhe.
Dann sah er ihre Tränen, hörte ihr stoßweises Atmen, als sie sich am Türgriff ihres Wagens zu schaffen machte. »Was ist los? Warum weinst du? Hast du dir weh getan?«
Sie atmete schluchzend aus und preßte eine Hand aufs Herz. O ja, o ja, es tat weh. »Es ist nichts. Ich muß nach Hause. Ich kann nicht – ich kann nicht bleiben.«
Sie riß die Wagentür auf und kletterte ins Auto.
Seth’ verblüffter Blick wurde grimmig, als er sie wegfahren sah. Von heißem Zorn erfüllt, stürmte er ums Haus und knallte das leuchtende Glas auf die Einfassung der Veranda. Er sah den Schatten auf dem Anlegesteg und ging mit kämpferisch geballten Fäusten dorthin.
»Du Mistkerl, du Schwein.« Er wartete, bis Ethan sich umgedreht hatte, dann rammte er ihm so fest die Faust in den Bauch, wie er konnte. »Du hast sie zum Weinen gebracht.«
»Ich weiß es.« Der frische physische Schmerz gesellte sich zu dem übrigen. »Das geht dich nichts an, Seth. Geh wieder ins Haus.«
»Verdammt nochmal, du hast ihr weh getan! Na los, versuch doch, mir weh zu tun. Das wird dir nicht so leicht fallen.« Seth schlug wieder und wieder zu, bis Ethan ihn am Kragen und am Hosenboden packte und ihn über den Rand des Anlegestegs baumeln ließ.
»Reg dich ab, hörst du, oder ich werfe dich ins Wasser.« Er schüttelte ihn fest, um die Drohung zu unterstreichen. »Meinst du etwa, ich hätte es darauf angelegt, sie zu verletzen? Meinst du, daß es mir Spaß gemacht hat?«
»Warum hast du es dann getan?« schrie Seth, der wie ein Fisch an der Angel kämpfte.
»Ich hatte keine andere Wahl.« Plötzlich unaussprechlich müde, ließ Ethan ihn auf den Steg hinunter. »Laß mich in Ruhe«, murmelte er und setzte sich auf den Rand. Erschöpft stützte er den Kopf in die Hände und preßte die Finger auf seine Augen. »Laß mich einfach in Ruhe.«
Seth trat von einem Fuß auf den anderen. Nicht nur Grace hatte Kummer. Er hatte nicht gewußt, daß auch ein erwachsener Mann so traurig sein konnte. Aber Ethan war traurig. Zögernd trat er zu ihm. Er schob die Hände in seine Taschen, dann zog er sie wieder hervor. Scharrte mit den Füßen. Seufzte. Dann setzte er sich.
»Frauen«, sagte Seth mit ruhiger, nachdenklicher Stimme. »Da möchte man sich manchmal nur noch eine Kugel in den Kopf schießen, um es sich hinter zu haben.« Das hatte er einmal Phillip zu Cam sagen hören und dachte, daß es jetzt passen könnte. Er war zufrieden, als Ethan kurz, wenn auch nicht besonders fröhlich, auflachte.
»Ja, ich schätze, da hast du recht.« Er legte den Arm um Seth’ Schultern, zog den Jungen fest an sich – und fühlte sich ein wenig getröstet.
18. Kapitel
Anna überlegte, was wichtiger war – und nahm sich den Tag frei. Sie konnte nicht genau sagen, wann Grace vorbeikam, um sich um den Haushalt zu kümmern, und sie durfte nicht riskieren, sie zu verpassen.
Ihr war völlig schnuppe, was Ethan sagen – oder nicht sagen würde. Es gab eine Krise.
Hätte sie angenommen, daß die beiden lediglich gestritten oder Meinungsverschiedenheiten hatten, dann wäre sie mitfühlend oder belustigt gewesen, je nachdem, was anstand. Aber es konnte sich nicht nur um eine Meinungsverschiedenheit handeln, dazu lag zuviel Schmerz in Ethans Augen. Oh, er wußte sich gut zu verstellen, dachte sie, als sie langsam und unbarmherzig das Unkraut ausriß, das ihre Begonien im Vorgarten zu überwuchern drohte. Und seine geheimsten Gefühle verbarg er besonders geschickt. Allerdings war sie zufällig ein Profi im Aufspüren geheimer Gefühle.
Pech für ihn, daß er eine Sozialarbeiterin zur Schwägerin bekommen hatte.
Sie versuchte Seth auszuhorchen, weil sie nicht den geringsten Zweifel hatte, daß der Junge etwas wußte. Aber sie war gegen eine eiserne Mauer männlicher Solidarität gestoßen. Von ihm erntete sie nur ein Achselzucken. Seine Lippen waren versiegelt.
Dennoch hätte sie es aus ihm herauskitzeln können. Aber sie brachte es nicht übers Herz, diese schöne Beziehung zu beschädigen. Sollte Seth ruhig Ethan die Stange halten.
Statt dessen würde sie sich Grace vorknöpfen.
Sie war sicher, daß die beiden sich seit Tagen nicht gesehen
hatten. Ethan im Auge zu behalten, war ein Kinderspiel. Jeden Morgen fuhr er aufs Wasser raus, nachmittags und abends arbeitete er in der Bootswerkstatt. Er stocherte in seinem Abendessen herum und verzog sich danach in sein Zimmer. Wo sie mehrere Male noch tief in der Nacht einen
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