Gezeiten der Liebe
gründen eine Familie. Wir sind unkompliziert, gradlinig, und so amüsant das andere auch finden mögen, so sind wir nun mal.«
Er starrte auf seine Hände. Sie hatte natürlich recht, oder hätte recht gehabt. Aber sie wußte eben nicht, daß er alles andere als unkompliziert war. »Es liegt nicht an dir, Grace.«
»Nein?« Kummer und Demütigung kämpften in ihr. Sie dachte sich, daß Jack Casey wohl das gleiche zu ihr gesagt hätte, wäre es ihm nicht zu mühsam gewesen, etwas zu sagen, bevor er ging. »Wenn es nicht an mir liegt, an wem dann? Ich bin die einzige hier.«
»Es liegt an mir. Ich kann wegen meiner Herkunft keine Familie gründen.«
»Wegen deiner Herkunft? Du kommst aus St. Christopher’s im Südosten Marylands. Du stammst von Raymond und Stella Quinn ab.«
»Nein.« Er hob den Blick. »Ich komme aus den Slums von Washington und Baltimore und so vieler anderer Städte, daß ich sie nicht mehr zählen kann. Ich stamme von einer Hure ab, die für eine Flasche Alkohol oder einen Schuß ihren Körper verkaufte – und auch den meinen. Du weißt nicht, wo ich herkomme. Oder was ich gewesen bin.«
»Ich weiß, daß du furchtbare Dinge erlebt hast, Ethan.« Sie sprach jetzt sanft, um den tiefen Schmerz zu lindern, der aus seinen Augen sprach. »Ich weiß, daß deine Mutter – deine biologische Mutter eine Prostituierte war.«
»Sie war eine Hure«, verbesserte Ethan. »›Prostituierte‹ ist ein zu harmloses Wort.«
»Na gut.« Sie nickte vorsichtig. Aus seinem Blick sprach jetzt auch Zorn, ebenso heftig und bitter wie der Schmerz.
»Du hast durchlitten, was kein Kind je erleben sollte, bevor du hierherkamst. Bevor die Quinns dir Hoffnung, Liebe und ein Heim gaben. Und du bist ihr Sohn geworden. Du bist zu Ethan Quinn geworden.«
»Sein Blut kann man nicht auswechseln.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Wie solltest du auch?« fuhr er sie aufgebracht, mit scharfer Stimme an. Woher sollte sie? dachte er rasend vor Wut. Sie war bei ihren Eltern aufgewachsen, hatte ihre Großeltern gekannt, hatte sich nie die Frage stellen zu müssen, was sie ihr vererbt, was sie von ihnen mitbekommen hatte.
Aber wenn er erst fertig war, würde sie es verstehen, o ja. Und das wäre das Ende. »Sie war groß, stark. Ich habe ihre Hände. Ihre Füße, die langen Arme.«
Er schaute auf diese Arme, auf diese Hände, die sich zu Fäusten geballt hatten, ohne daß er es merkte. »Ich weiß nicht, woher der Rest kommt, weil sie vermutlich ebensowenig wie ich wußte, wer mein Vater war. Irgendein Freier wahrscheinlich, mit dem sie Pech hatte. Sie hat mich nicht abgetrieben, weil sie bereits drei Abtreibungen hinter sich hatte und es zu riskant fand. Das hat sie mir gesagt.«
»Wie grausam von ihr.«
»Himmel, Herrgott.« Unfähig, länger stillzusitzen, sprang er auf und kletterte auf den Steg, um dort auf und ab zu gehen.
Grace folgte ihm langsam. In einem Punkt hatte er recht, dachte sie. Sie kannte diesen Mann nicht, diesen Mann mit den schnellen, abrupten Bewegungen, der die Fäuste ballte, als wolle er auf jeden einschlagen, der seinen Weg kreuzte.
Daher hielt sie sich von ihm fern.
»Sie war ein Ungeheuer. Ein gefühlloses Ungeheuer. Sie schlug mich nur so zum Spaß halbtot, wann immer sie einen Grund zu haben glaubte.«
»Oh, Ethan.« Nicht imstande, sich zurückzuhalten, streckte sie die Hand nach ihm aus.
»Faß mich nicht an.« Er wußte nicht, was er tun würde, wenn sie sich ihm jetzt näherte. Und das machte ihm angst. »Faß mich jetzt nicht an«, wiederholte er.
Sie ließ die Arme sinken und kämpfte mit den Tränen.
»Einmal mußte sie mich ins Krankenhaus bringen«, fuhr er fort. »Ich schätze, sie hatte Angst, daß ich ihr wegsterben würde. Damals zogen wir von Washington nach Baltimore. Der Arzt hatte zu viele Fragen gestellt. Er wollte genau wissen, wie ich die Treppe hinuntergefallen wäre und mir die Gehirnerschütterung und die gebrochenen Rippen eingehandelt hätte. Ich habe mich immer gefragt, warum sie mich nicht einfach dort zurückließ. Aber sie bezog meinetwegen Stütze, und außerdem hatte sie so einen lebenden Sandsack, und das war wohl Grund genug. Bis ich acht Jahre alt war.«
Er blieb stocksteif stehen, das Gesicht ihr zugewandt. In ihm war soviel rasende Wut angestaut, daß er zu spüren vermeinte, wie sie seine Haut versengte. Ihr bitterer Geschmack brannte ihm in der Kehle. »Da überlegte sie sich, daß ich allmählich selbst für meinen Unterhalt aufkommen
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