Gezeiten der Liebe
anbot.
Er warf einen Blick auf die große runde Uhr, die über der Eingangstür an die Wand genagelt war. Phillips Idee, erinnerte er sich und grinste. Sein Bruder hatte gemeint, daß sie wissen müßten, wieviel Zeit sie jeweils für einen Arbeitsgang brauchten, doch soweit Ethan wußte, war Phillip der einzige, der ein Protokoll führte.
Es war fast ein Uhr morgens, was bedeutete, daß Grace in etwa einer Stunde im Pub Schluß machen würde. Es könnte nichts schaden, Seth in den Transporter zu laden und schnell beim Shiney’s vorbeizufahren. Nur um ... mal die Lage zu peilen.
Als er sich aufrichtete, hörte er den Jungen im Schlaf wimmern.
Die Pizza ist ihm schließlich doch auf den Magen geschlagen, dachte Ethan kopfschüttelnd. Aber vermutlich gehörte eine gewisse Quote von Bauchschmerzen zur Kindheit dazu. Er kletterte hinunter und ließ seine Schultern kreisen, um die Verspannungen zu lösen, während er sich dem schlafenden Jungen näherte.
Er kauerte sich neben Seth, legte eine Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn sacht.
Der Junge fuhr auf und holte zum Schlag aus.
Der Fausthieb traf Ethan am Mund, so daß sein Kopf nach hinten schnellte. Der Schock, mehr als der aufflammende scharfe Schmerz, entlockte ihm einen Fluch. Den nächsten Schlag parierte er, dann hielt er Seth’ Arm fest. »Hör auf!«
»Nimm deine Hände weg!« Wild, verzweifelt, noch halb in seinem schlimmen Traum befangen, fuchtelte Seth hilflos in der Luft herum. »Nimm deine verdammten Hände weg.«
Ethan begriff schnell. Es lag an dem Ausdruck in Seth’ Augen – nacktes Entsetzen und blinde Wut. Früher hatte er
dasselbe gefühlt, ein Gemisch aus heillosem Zorn und alles verschlingender Ohnmacht. Er ließ los und hob die Hände. »Du hast geträumt.« Das sagte er leise, tonlos und horchte auf das Echo von Seth’ stoßweisem Atem. »Du warst eingeschlafen.«
Seth ballte die Fäuste. Er erinnerte sich nicht daran, eingeschlafen zu sein. Er wußte nur noch, daß er sich zusammengerollt und eine Zeitlang auf die Geräusche von Ethans Bohrmaschine gehorcht hatte. Und im nächsten Moment befand er sich wieder in einem dieser dunklen Verschläge, wo ein säuerlicher, allzu menschlicher Geruch in der Luft hing und aus dem Nebenzimmer durchdringende, tierähnliche Laute zu hören waren.
Und einer der Männer, die das Bett seiner Mutter benutzten, war hereingeschlichen und hatte ihn angefaßt.
Aber es war Ethan, der ihn jetzt geduldig beobachtete, und aus seinen ernsten Augen sprach tiefes Verständnis. Seth’ Magen krampfte sich zusammen, nicht nur wegen all der Dinge, die geschehen waren, sondern auch weil Ethan jetzt vermutlich Bescheid wußte.
Da ihm nicht einfiel, was er sagen, wie er sich rechtfertigen sollte, schloß Seth nur die Augen.
Das gab für Ethan den Ausschlag – die Ergebung in die Ohnmacht, die Kapitulation vor der Scham. Er hatte seine eigenen Wunden zwar nie wieder aufreißen wollen, aber nun schien es, als komme er nicht darum herum.
»Du brauchst dich nicht mehr vor der Vergangenheit zu fürchten.«
»Ich fürchte mich vor gar nichts.« Seth schlug die Augen auf. Der bittere Zorn, der in ihnen stand, war der Zorn eines Erwachsenen, doch das kindliche Stocken in seiner Stimme verriet sein wahres Alter. »Ich habe keine Angst vor einem albernen Traum.«
»Und du brauchst dich deswegen auch wirklich nicht zu schämen.«
Gerade weil er es tat, weil er sich zutiefst schämte, sprang Seth auf, die Fäuste geballt. »Ich schäme mich überhaupt nicht. Und du weißt verdammt gar nichts darüber.«
»Ich weiß verdammt alles.« Genau deshalb widerstrebte es ihm so sehr, darüber zu sprechen. Trotz seiner aggressiven Körperhaltung zitterte der Junge, und Ethan wußte, wie einsam er sich fühlte. Darüber zu sprechen war das einzige, was er tun konnte,. Es war richtig und vernünftig.
»Ich weiß noch, wie die Träume mir zugesetzt haben, wie sie mich noch lange, lange Zeit quälten, als es längst vorbei war.« Und die Träume suchten ihn nach wie vor heim, wenn auch bedeutend seltener als früher – aber es war unnötig, dem Jungen jetzt schon zu sagen, daß er es zeitlebens mit Erinnerungsblitzen und Angstträumen zu tun haben würde. »Ich weiß, was es einem antut.«
»Blödsinn.« Tränen brannten in Seth’ Augen, was ihn nur noch mehr demütigte. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin ja schließlich entkommen, oder nicht? Sie kann mir nichts mehr tun. Und ich gehe nie mehr zurück, egal
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