Gezeiten der Liebe
nächsten Tag, als der Sonnenuntergang nahte, war Grace noch unsicherer geworden, was Annas Plan betraf. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, sie spürte förmlich, wie sie unter ihrer Haut vibrierten. In ihrem Magen rumorte es unaufhörlich, und das Blut pochte beharrlich in ihren Schläfen.
Das Höchste wäre es, dachte sie ärgerlich, wenn es Anna gelänge, Ethan zu ihr zu locken und sie ihm anschließend sterbenselend vor die Füße sank.
Eine geniale Verführung.
Sie hätte sich nie auf diese abgedrehte Idee einlassen sollen, sagte sie sich, als sie einen letzten Rundgang durch ihr kleines Haus machte. Anna hatte sich von ihrer Begeisterung hinreißen lassen; für sie stand außer Frage, daß alles glatt gehen würde. Und Grace hatte sich anstecken lassen, ohne sich klarzumachen, wie viele Unwägbarkeiten der Plan enthielt.
Was sollte sie nur zu ihm sagen, wenn er kam? Falls er überhaupt kam, dachte sie, zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend. Vermutlich würde er nie auftauchen, und dann hätte sie ihre Kleine ganz umsonst für die Nacht ausquartiert.
Es war viel zu still hier. Man hörte nichts außer der abendlichen Brise, die in den Bäumen raschelte. Wäre Aubrey hiergewesen – wo sie hingehörte –, dann hätte sie ihr jetzt ihre Gutenachtgeschichte vorgelesen. Die Kleine hätte gewaschen und frisch gepudert in Grace’ Armen auf dem Schaukelstuhl gesessen und sich schläfrig an sie gekuschelt.
Grace seufzte, dann preßte sie fest die Lippen zusammen
und marschierte zu der kleinen Stereoanlage in dem Regal aus Kiefernholz im Wohnzimmer. Sie wählte ein paar CDs aus ihrer Sammlung – der einzige Luxus, den sie sich gönnte, ohne sich schuldig zu fühlen –, und ließ die melancholischen, romantischen Klänge einer Mozart-Sinfonie durchs Haus wehen.
Anschließend ging sie zum Fenster, um zuzusehen, wie die Sonne langsam am Horizont versank. Das weiche Licht verblaßte, verlor an Farbe. In dem Pflaumenbaum, der den Vorgarten der Cutters zierte, stimmte im Zwielicht ein einsamer Nachtvogel, ein Ziegenmelker sein Lied an. Könnte sie doch nur über sich selbst lachen – die einfältige Grace Monroe, die in ihrem rosa Kleid am Fenster stand und sehnsüchtig auf eine Sternschnuppe wartete, um sich etwas zu wünschen.
Doch stumm lehnte sie die Stirn gegen die Scheibe, schloß die Augen und sagte sich, daß sie zu alt wäre, um sich etwas von einer Sternschnuppe zu wünschen.
Anna dachte sich, daß ihr das Talent zur Spionin in die Wiege gelegt worden war. Sie hatte den Plan tapfer für sich behalten und gegen ihren Mitteilungsdrang angekämpft – wie gern sie Cam auch alles erzählt hätte.
Immer wieder mußte sie sich vorsagen, daß er schließlich ein Mann war. Und obendrein Ethans Bruder – noch ein Hinderungsgrund. Dies war eine Frauensache. Unauffällig – so glaubte sie – behielt sie Ethan im Auge; o nein, nach dem Abendessen würde er nicht wie sonst unbemerkt entkommen können. Er würde tun, was sie von ihm erwartete. Und all das, ohne zu ahnen, daß seine Schwägerin die Fäden zog.
Die Idee mit dem Eis war ein Geniestreich. Auf dem Heimweg hatte sie einen großen Topf besorgt, und jetzt saßen »ihre drei Männer« auf der hinteren Veranda und schlemmten.
Der Zeitpunkt war gekommen, sagte sie sich und rieb sich die Hände, bevor sie auf die Veranda hinaustrat. »Uns steht eine warme Nacht bevor. Kaum zu glauben, daß es fast schon Juli ist.«
Sie ging zum Geländer, beugte sich vor und betrachtete ihre Blumenbeete. Sie gediehen prächtig, dachte sie ein wenig selbstgefällig. »Ich hab’ mir überlegt, daß wir am 4. Juli ein Picknick im Garten veranstalten könnten.«
»Unten am Hafen gibt’s ein Feuerwerk«, warf Ethan ein. »Jedes Jahr, eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang. Man kann es von hier aus sehen.«
»Wirklich? Das wäre doch ideal. Wie findest du die Idee, Seth? Du könntest deine Freunde einladen, dann grillen wir Hamburger und Hot dogs.«
»Cool.« Er kratzte seine Schale aus und überlegte bereits, wie er einen Nachschlag ergattern könnte.
»Dann muß ich ja die Hufeisen ausgraben«, sagte Cam. »Liegen die noch irgendwo hier herum, Ethan?«
»Ja, irgendwo.«
»Und Musik brauchen wir.« Anna drehte sich um und tätschelte Cams Knie. »Ihr drei könntet zusammen musizieren. Für meinen Geschmack spielt ihr viel zu selten zusammen. Ich muß unbedingt eine Liste machen. Ihr müßt mir sagen, wen wir alles einladen sollen – und
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