Gezeitengrab (German Edition)
er sein Testament vielleicht mit Hugh Anselm besprochen? Ging es darum bei ihrer letzten Begegnung, falls die überhaupt je stattgefunden hat? Der Letzte von uns, der noch lebt, wird die nötigen Instruktionen hinterlassen, wo das Beweismaterial zu finden ist. Archie war der Letzte gewesen. Warum hat er sich entschlossen, sein Geheimnis auf diese Weise weiterzugeben?
Im Haus ist alles dunkel. Michelle und Rebecca sind beide schon im Bett, doch als Nelson ins Arbeitszimmer kommt, sieht er, dass der Rechner noch an ist. Im bläulichen Licht des Monitors zieht er den Brief aus der Tasche und liest ihn.
Lieber Archie, lieber Hugh,
wenn ihr diesen Brief erhaltet, bin ich schon lange tot. Ich habe meine jüngere Schwester gebeten, die Briefe an ihrem achtzigsten Geburtstag aufzugeben, der im Jahr 2001 stattfindet. Könnt ihr euch dieses Datum vorstellen? Ich nicht. Ich glaube eher, dass die Welt bis dahin längst untergegangen ist. Vielleicht trifft uns ja ein Meteorit, wie Hugh immer sagt.
Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht damit leben. Ich kann nicht mit dem Wissen leben, was wir den armen Kerlen in der Nacht damals angetan haben. Ständig träume ich davon, und in diesen Träumen kommen sie mich holen, weil sie wissen, dass es meine Schuld war. Ich hätte die anderen aufhalten müssen. Ich weiß, Hugh, du hast es versucht, aber das war einfach nicht genug. Ich weiß, wir haben diesen Film gemacht, und eines Tages werden alle erfahren, was passiert ist. Aber ich kann mir nicht helfen: Irgendwie braucht es ein Opfer . Ein Leben für ein Leben. Also werde ich es tun. Morgen früh, bevor es hell wird, gehe ich an den Strand von Broughton hinunter und schwimme über Sea’s End Point hinaus. Ich werde schwimmen und immer weiter schwimmen, bis ich nicht mehr weiter schwimmen kann, und dann soll das Meer mich holen. Wenn man es so formuliert, klingt es eigentlich ganz schön, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass es schön wird, aber es ist das einzig Richtige. Vielleicht könnt ihr anderen dann ja in Frieden weiterleben.
Ich wünsche mir sehr, dass ihr diese Zeilen am Ende eines langen und glücklichen Lebens lest!
Euer guter Freund
Danny
Noch lange sitzt Nelson im Dunkeln, den Brief in der Hand. Er zweifelt nicht einen Moment daran, dass Archie am Abend, bevor er starb, diesen Brief gelesen hat. Einen Brief, den er viele Jahre hindurch in dem Agatha-Christie-Roman versteckt gehalten hat. Ob der Titel irgendwie von Bedeutung ist? Das Böse unter der Sonne ? Aber die Morde sind ja im Dunkel der Nacht geschehen und wurden nur von Jack Hastings’ aufmerksamem Bruder verfolgt, der selbst längst nicht mehr lebt.
Wahrscheinlich hat Nelsons Besuch Erinnerungen in Archie wachgerufen, und deshalb ist er in jener Nacht mit dem Wort «Luzifer» auf den Lippen eingeschlafen. Luzifer: der Plan, das Meer in ein Meer aus Flammen zu verwandeln. Vielleicht war es aber auch eine Anspielung auf Buster Hastings, der ja selbst ein «Satansbraten» war, der kaltblütig fünf Männer ermordete – nicht zu vergessen den Mann, den sein getreuer Sergeant erschossen hat – und seine Truppe zum Blutschwur zwang, das Geheimnis auf ewig zu wahren. Archie hat sein Versprechen gehalten – doch in jener Nacht ist jemand zu ihm ins Zimmer gekommen, während er schlief, und hat ihn erstickt. Wer ist noch am Leben, der morden würde, um den guten Namen Hastings zu schützen?
Und wen wird dieser Jemand noch umbringen?
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29
Alles in allem ist Ruth erleichtert, dass sie am Montagmorgen zur Arbeit fahren kann. Am späten Sonntagabend hat ihr jemand von der Polizei ihren Wagen zurückgebracht, da war der Schnee schon wieder größtenteils geschmolzen. Den ganzen Abend über, während Ruth mit Tatjana vor dem Fernseher saß, sind große Schneestücke vom Dach heruntergekracht. Und als sie zu Bett ging, relativ früh, weil sie furchtbar müde war, sah sie, dass auf dem Salzmoor schon wieder dunklere Stellen schimmerten und die Spitzen des Schilfs durch die weiße Decke schauten.
Am Montagmorgen ist es sonnig, fast schon frühlingshaft. Auf dem Weg zur Arbeit sind alle Straßen frei, und vom Schnee ist nur noch schmutziger Matsch im Rinnstein übrig. Der Campus allerdings ist noch tief verschneit. Vor dem Eingang zum Fachbereich Naturwissenschaft steht ein riesiger Schneemann mit einem Uni-Schal um den Hals, doch als Ruth an ihm vorbeigeht, fällt ihm der Kopf ab wie einem gestürzten Diktator. Bald wird der Schnee wieder
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