Gezeitengrab (German Edition)
komplett verschwunden sein, ein letzter Traum von Winter. Genau das muss auch die Nacht auf Sonntag bleiben, ermahnt Ruth sich streng: ein Traum. Jetzt geht es mit dem richtigen Leben weiter. Seufzend steigt sie die Treppen bis zur Etage der Archäologen hinauf.
Um zehn ist sie mit den Feldarchäologen verabredet. Trace ist nicht dabei, doch Ted, Craig und Steve zwängen sich in ihr kleines Büro, und Ruth berichtet ihnen kurz vom Fund des Films. Die drei sind immer noch mit der Küstenerosionsstudie im Auftrag der Universität beschäftigt, aber Ruth fühlt sich verpflichtet, sie auf dem Laufenden zu halten, nachdem sie die Toten überhaupt erst gefunden haben. Mit Nelson ist sie übereingekommen, dass sie nicht ins Detail gehen, sondern einfach nur erzählen wird, es seien neue Beweise aufgetaucht. Sie darf ihnen nicht einmal sagen, wie der Film entdeckt wurde, obwohl sie das als Archäologen natürlich brennend interessiert. Vor allem Ted stellt lauter unangenehme Fragen: «Wieso taucht dieser Film erst jetzt nach über siebzig Jahren auf? Und wer sind die Männer? Dieser Dieter meinte doch, sie wären Deutsche. Habt ihr irgendeine Ahnung, wer sie umgebracht hat?»
«Ich darf euch nicht mehr sagen», wiederholt Ruth immer wieder. «Die Informationen sind vertraulich. Die Polizei ermittelt noch.»
«Ermitteln sie auch wegen Dieters Tod?», will Ted wissen. «Der kommt mir nämlich ganz schön verdächtig vor.»
«Ich darf euch wirklich nichts sagen.»
Craig rettet sie, indem er nach der Operation Luzifer fragt. Erleichtert erzählt ihm Ruth von der explosiven Verteidigungslinie entlang der Nordküste Norfolks, von den Feuerschiffen und den Fässern mit Schießwolle.
«Wir fahren nachher hin und schauen uns noch mal um», meint Ted. «Schließlich haben wir ja noch ein paar Kilometer Küste vor uns.»
«Na, dann seid mal vorsichtig», sagt Ruth. «Vielleicht sind ja einige der Sprengkörper noch scharf.»
Ihr ganzes Leben, denkt sie, nachdem sich die Tür hinter den drei Männern geschlossen hat, scheint mit einem Mal aus lauter explosionsbereiten Bomben zu bestehen. Und wie zur Bestätigung steht, noch ehe die Feldarchäologen den Gang hinunter sind, Phil mit gewinnendem Lächeln in der Tür.
«Kann ich dich kurz sprechen, Ruth?»
«Ich muss in einer Stunde unterrichten.»
«Es dauert gar nicht lange.»
Er setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und zieht auf eine Weise, die Shona vermutlich besonders attraktiv findet, die Nase kraus.
«Was sagt man zu diesem Schnee? Shona und ich waren mit den Jungs Schlitten fahren. Ein großer Spaß.»
«Das glaube ich.»
«Wie war es auf der New Road? Muss ja die Hölle gewesen sein, da draußen auf dem platten Land.»
«Am Samstag lag der Schnee ziemlich hoch. Aber heute früh war alles schon wieder weg.»
«Shona meinte, du hast ein paar interessante Entdeckungen gemacht.»
Ruth verflucht sich innerlich dafür, dass sie Shona von der Fahrt zum Leuchtturm erzählt hat. Das hätte sie nicht getan, wenn sie keine Babysitterin gebraucht hätte.
«Stimmt. Wir haben neue Beweise zu den Toten aus Broughton Sea’s End gefunden.»
Phil neigt den Kopf, um sie zum Weiterreden zu animieren.
«Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich dir erzählen darf», sagt Ruth befangen. «Das ist eine Angelegenheit der Polizei.»
«Ach, komm schon, Ruth. Ich bin dein Vorgesetzter.»
Das stimmt. Es stimmt aber auch, dass Ruth inzwischen offizielle Beraterin der Polizei ist und damit Teil des Ermittlungsteams. Sie sitzt gewissermaßen zwischen den Stühlen, und diese Position wird immer mehr zum Minenfeld.
«Dieter Eckhart, der arme Kerl …» Phil senkt fromm den Kopf. «Er meinte, die Toten seien Deutsche.»
«Ja, wir sind verhältnismäßig sicher, dass es sich um deutsche Soldaten gehandelt haben muss. Das belegt auch die Isotopenanalyse.»
«Weißt du, wie sie umgekommen sind?»
«Sie wurden erschossen.»
Phil reißt die Augen auf. «Von Briten?»
«Es gibt eine Aussage, die darauf hindeutet.»
«Eine Aussage? Von wem?»
«Ich fürchte, das darf ich dir nicht sagen.»
Phil ändert die Taktik. «Und wie ist Eckhart nun ums Leben gekommen? Da sind ja wahnsinnig viele Gerüchte im Umlauf.»
«Die Polizei ermittelt.»
«Glauben die, es war Mord?»
«Das darf ich dir nicht sagen.»
«Dann glauben sie also, dass es Mord war.»
Ruth schweigt, und nach ein paar weiteren Minuten nervtötenden Abwartens verzieht Phil sich wieder.
Montags muss Ruth viel
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