Gezeitengrab (German Edition)
allen, wie es ist, nach so vielen Jahren den treuen Gefährten zu verlieren. Was nun unser Gespräch betrifft …
Und auch dieser Brief bricht einfach ab.
Dann hat Irene Hastings also sowohl Archie Whitcliffe als auch Hugh Anselm besucht. Keiner der Briefe ist datiert, doch Nelson weiß von Kevin Fitzgerald, dass Anne Anselm seit acht Jahren tot ist. In dem Brief an Archie erwähnt Hugh, seine Frau sei «im vergangenen Jahr» gestorben. Der Brief an Irene wurde anscheinend kurz nach Annes Tod geschrieben, zu dem Irene ihr Beileid bekundet hat. Was Hugh wohl mit ihr besprochen hat? Und warum sind beide Briefe unvollendet?
Nelson fällt auf, dass er den Brief nie zu sehen bekommen hat, den Archie am Abend vor seinem Tod gelesen haben soll. Er betrachtet das durchgestrichene Wort im Brief-Entwurf an ihn. Wenn ihn nicht alles täuscht, steht da «Luzifer».
Maria steht im Dunkeln und beobachtet die Gestalt. Ihr Herz klopft so laut, dass man es eigentlich im ganzen Haus hören müsste. Als sie sich umdreht und George friedlich schlafen sieht, kommt es ihr vor, als blickte sie in eine andere Welt: das Nachtlicht, die Statue Unserer Lieben Frau, ihre Arbeitskluft, die an der Tür hängt. Doch dann schaut sie wieder zum Fenster, und da steht er immer noch. Sie hat angefangen, die Gestalt als «er» zu bezeichnen. So bedrohlich kann nur ein Mann wirken, da ist sie sich sicher. Er steht jetzt direkt unter ihrem Fenster und sieht zu ihr herauf. Manchmal verschluckt ihn die Dunkelheit, doch dann kommt ein Auto vorbei, und sie sieht ihn wieder für einen kurzen Moment. Da steht er, wartet. Hell, dunkel, hell, dunkel.
Maria selbst steht jetzt ganz im Dunkeln. Am liebsten würde sie die Vorhänge vorziehen, doch sie hat Angst, sich auch nur für eine Sekunde zu zeigen. Dicht an die Wand gedrückt, hofft sie, dass er sie nicht sieht, obwohl sie ihn sehen kann. Was will er bloß von ihr? Rasch spricht sie ein paar «Ave Maria», aber davon verschwindet er auch nicht. Sie zermartert sich das Hirn nach einem geeigneten Heiligen. Judas Thaddäus vielleicht, der Schutzpatron für hoffnungslose Fälle? Oder die heilige Agnes, die sich einen Bart wachsen ließ, um einen hartnäckigen Verehrer zu vertreiben? Ist dieser Mann ein Verehrer? Möglich wäre es. Einige Männer sind hinter ihr her, manche auch sehr hartnäckig. Da war dieser Raumpfleger von der Arbeit, der ihr den großen Blumenstrauß vor die Tür gelegt hat. Das hat ihr Angst gemacht. Er wusste also, wo sie wohnt. Wie war er überhaupt ins Haus gekommen? Wochenlang hatte sie nachts ein Messer neben dem Bett, doch dann hat der Raumpfleger eine andere Stelle bekommen und ist weggezogen, und Maria war wieder in Sicherheit.
Aber dieser Mann ist kein Verehrer, das weiß sie genau. Er liebt sie nicht. In seiner Haltung liegt keine Hoffnung, keine Erwartung. Er beobachtet, so als spielten sie ein Brettspiel und er wartete auf ihren nächsten Zug. Sobald sie sich bewegt, wird er zuschlagen. Er will sie nicht heiraten – er will sie töten.
Nelson gähnt und reibt sich die Augen. Er ist erschöpft, will aber noch nicht ins Bett. Wenn er noch ein wenig wartet, schläft Michelle vielleicht schon. Denn wenn sie noch wach ist, will sie womöglich Sex, und Nelson hat heute, zum ersten Mal, seit er verheiratet ist, wirklich keine Lust, mit seiner Frau zu schlafen. Und noch mehr Schuldgefühl kann er einfach nicht ertragen.
Er bleibt am Schreibtisch sitzen und lauscht dem Fernseher nebenan. Hugh Anselms Worte – klug, pedantisch und manchmal traurig – laufen ihm wie eine Endlosschleife durch den Kopf. Wer hat Hugh im Februar einen Besuch abgestattet, seinen Treppenlift abgestellt und ihn sterben lassen, während er vergeblich mit dem Gurt kämpfte und versuchte, an den Schaltknopf zu kommen? Wer ist nachts in Archies Zimmer geschlichen, hat ihn erstickt und ist dann lautlos wieder verschwunden? Wer hat Dieter Eckhart erstochen und seine Leiche ins Meer geworfen? War das alles derselbe Täter oder drei verschiedene?
Wir haben nur einer weiteren Person von diesem Film erzählt. Der Letzte von uns, der noch lebt, wird die nötigen Instruktionen hinterlassen, wo das Beweismaterial zu finden ist.
Der Letzte von uns …
Nelson zieht Hugh Anselms unvollendete Briefe wieder hervor. Vielleicht hast ja auch du einen Brief von Daniel bekommen?
Jetzt hat er Irenes Stimme im Ohr, als er ihr zum ersten Mal begegnet ist: Nun, es waren schon auch ein paar Jungspunde dabei. Man kam nur in
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