Gezeitengrab (German Edition)
unterrichten – um zwei hat sie gleich das nächste Seminar. Rasch holt sie sich ein Sandwich in der Cafeteria und geht damit wieder zurück ins Büro, um sich vorzubereiten. Sie schleicht sich vorsichtig an Phils offener Bürotür vorbei. Schließlich will sie nicht riskieren, ihm noch mehr zu verraten.
Als sie gerade ihr Sandwich aufgegessen und sich in einen Aufsatz über Knochenkrankheiten für ihre Studenten vertieft hat, klingelt das Telefon. Craig ist dran. Ted und er, sagt er, hätten am Strand gleich hinter Broughton ein Boot entdeckt. Es sehe alt aus. Ob es sich vielleicht um eins der Feuerschiffe handeln könne, die Ruth erwähnt hat? Vielleicht möchte sie ja vorbeikommen und es sich anschauen?
Das möchte Ruth sehr gern. Sie sehnt sich danach, aus der Universität herauszukommen, wieder richtig archäologisch zu arbeiten, einen Fund zu begutachten, die Sonne und den Wind im Gesicht zu spüren. Aber selbst wenn sie gleich nach ihrem Seminar aufbricht, wird sie keinesfalls rechtzeitig zurück sein, um Kate um fünf abzuholen. Sandra hätte sicher nichts dagegen, sie eine Stunde länger dazubehalten, aber vielleicht kann auch Tatjana sie abholen? Ihre Konferenz ist vorbei, und am Morgen hat sie noch gemeint, sie habe heute nichts weiter vor. Am nächsten Tag wird sie abreisen, gepackt hat sie bereits, und alle Sehenswürdigkeiten von King’s Lynn und Norwich hat sie auch längst besichtigt. Bisher hat Ruth es vermieden, Tatjana in Bezug auf Kate um irgendetwas zu bitten, aber diese eine kleine Gefälligkeit wird ihr ja wohl nichts ausmachen. Schließlich hat Ruth sie fast drei Wochen lang bei sich beherbergt.
Sie ruft Tatjana auf dem Handy an. Eigentlich hat sie sich das Gespräch nicht weiter schwierig vorgestellt, sogar damit gerechnet, dass Tatjana ihr gleich ins Wort fallen und von sich aus anbieten wird, Kate abzuholen. Doch Tatjana lässt sie schweigend ausreden. Ruth stottert, wiederholt sich. Jetzt fällt ihr auch wieder ein, wie ungern sie andere um einen Gefallen bittet. Als sie sich schließlich endgültig um Kopf und Kragen geredet hat, sagt Tatjana: «Nur, damit ich das richtig verstehe: Ich soll deine Tochter abholen?»
Der Ton, in dem sie «deine Tochter» sagt, gefällt Ruth ganz und gar nicht.
«Ja», murmelt sie.
«Weil es dir gerade nicht in den Kram passt?»
«Nein! Darum geht es doch gar nicht. Aber Craig hat da etwas gefunden, das interessant sein könnte …»
«Interessant, aber nicht lebenswichtig. Es ist nicht absolut essenziell, dass du heute noch hinfährst, oder?»
«Nein, aber …»
«Du erwartest von uns allen, dass wir ständig für dich springen, oder?» Tatjana lacht, doch es klingt kein bisschen belustigt. «Shona, ich, Judy. Alle sollen wir auf dein Kind aufpassen, weil du zu beschäftigst bist, mit Detective Chief Inspector Nelson rumzuziehen und Ermittlerin zu spielen. Das ist aber gar nicht deine Aufgabe, Ruth. Deine Aufgabe besteht darin, Mutter zu sein.»
«Meine Aufgabe besteht darin, Archäologin zu sein.»
«Ach ja, stimmt.» Wieder lacht Tatjana. «Wie läuft’s denn damit, Ruth? Wie viele Aufsätze hast du veröffentlicht? Was ist aus dem Buch geworden, das du schon ewig schreiben willst? Gar nichts, oder?»
«Ich war …»
«Beschäftigt? Stimmt, du warst beschäftigt damit, ein Baby ohne Vater zu kriegen.»
Ruth verschlägt es die Sprache. Solche Dinge hört sie sonst nur von ihrer Mutter. Aber doch nicht von Tatjana, die schließlich ihre Freundin sein soll.
«Es tut mir sehr leid, dass du das so siehst», sagt sie schließlich.
«Ja.» Tatjana klingt mit einem Mal zutiefst erschöpft. «Mir auch. Mir tut es um uns alle leid. Am meisten aber um Kate.» Und damit legt sie auf.
Ruth zittert am ganzen Körper. Sie starrt den Telefonhörer an, als könnte er ihr den Grund für Tatjanas Ausbruch verraten. Tatjana fand es nicht gut, dass Ruth Clara gebeten hat, auf Kate aufzupassen – das weiß Ruth, und das kann sie auch nachvollziehen. Wer wüsste besser als sie, wie Tatjana dazu steht, die Karriere über das eigene Kind zu stellen? Wie konnte sie überhaupt glauben, Tatjana wäre auf ihrer Seite? Tatjana kann es nicht gutheißen, dass Ruth ihre Tochter bei anderen Leuten lässt, während sie selbst mit Nelson «rumzieht». Aber trotzdem hätte Ruth niemals mit einer solchen Giftattacke gerechnet, mit so viel … Hass, das ist das einzig passende Wort. In Tatjanas Stimme schwang eine so tiefe Verachtung mit, dass Ruth sich fast
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