Gezeitengrab (German Edition)
Visitenkarte. «Ich habe Judy angerufen, weil sie nett ist.»
«Sergeant Johnson hat heute keinen Dienst», wirft Clough ein. «Deswegen bin ich ans Telefon gegangen.»
Maria mustert ihn zweifelnd.
Da erscheint Taylor, der Streifenpolizist, in der Wohnungstür, und Nelson geht nach draußen, um mit ihm zu reden. Keine Spur von irgendeinem Mann, der draußen herumlungert. Auch die Leute von der Tankstelle haben nichts gesehen, und ihre Überwachungskameras reichen nicht bis zu Marias Wohnblock. Nelson überlegt, ob der geheimnisvolle Lauerer das wohl wusste. Er fragt Taylor, ob er mit anderen Hausbewohnern gesprochen habe. Nein, erwidert der Polizist stoisch, das habe ihm keiner gesagt.
Nelson seufzt. «In Ordnung, Taylor. Warten Sie im Wagen auf uns.»
Er dreht sich zu Maria um, die sich wieder an den Tisch gesetzt hat. Clough sitzt neben ihr, mit gerade so viel Abstand, dass es noch professionell wirkt.
«Konnten Sie den Mann erkennen, Maria?»
«Nein. Es war dunkel. Er hatte dunkle Kleider an und eine Mütze.»
«Was für eine Mütze?»
«Aus Wolle. So eine, wie George trägt beim Fußball.»
«Und welche Farbe?»
«Schwarz.»
«Haben Sie sein Gesicht gesehen? Als er nach oben geschaut hat vielleicht?»
«Nicht viel.»
«War er hellhäutig? Oder dunkel?» Vorsichtig bewegt sich Nelson durch das Minenfeld des politisch Korrekten.
«Hell. Wie Sie.»
«Und was hatte er an?»
«Einen langen schwarzen Mantel. Und Hose.»
«Sind Sie sicher, dass es ein Mann war?», fragt Clough.
Maria sieht ihn an, und ihre Unterlippe bebt. «Nein.»
Clough und Nelson wechseln einen Blick. Nelson ist so müde, dass er kaum noch ein Wort herausbringt. Es gibt keinerlei Beweis dafür, dass Marias geheimnisvoller Lauerer existiert, aber andererseits ist sie diejenige, der Archie seinen rätselhaften Hinweis hinterlassen hat, die nichtsahnende Hüterin eines siebzig Jahre alten Geheimnisses. Will ihr vielleicht jemand Angst einjagen? Jemand, der den Code selber knacken möchte?
«Maria», sagt er, doch das beruhigende Flüstern klingt eher wie ein drohendes Krächzen. «Sie wissen doch noch, dass Archie Ihnen in seinem Testament ein paar Bücher vermacht hat?»
«Ja.» Maria blickt erstaunt auf.
«Kann ich sie mal sehen? Die Bücher?»
Maria geht zu der schwarzen Truhe neben dem Bett. Mühsam stemmt sie den Deckel hoch – Clough eilt sofort herbei, um ihr zu helfen – und zieht acht zerlesene Taschenbücher hervor. Ohne Clough anzusehen, blättert Nelson jedes Buch einzeln durch. In Das Böse unter der Sonne findet er schließlich, was er sucht: einen Brief.
«Wussten Sie, dass der dort steckt?», fragt er Maria.
Sie sieht ihn verwirrt an. «Nein.»
«Darf ich ihn mir ein bisschen ausleihen?»
«Natürlich.»
Nelson faltet den Brief und steckt ihn in die Tasche. Ruth hätte ihn jetzt sicher ermahnt, Handschuhe anzuziehen.
An der Tür fragt er noch einmal: «Maria, haben Sie irgendwem erzählt, dass Archie Ihnen die Bücher hinterlassen hat?»
«Im Heim wissen es alle. Dorothy sagt, es ist eine Ehre für uns alle. Dass er mir etwas hat vererbt.»
Das überzeugt Nelson nicht unbedingt. Hätte Archie dem Greenfields Care Home eine Ehre erweisen wollen, dann hätte er das doch ganz offen tun können. Nein, die Bücher waren allein für Maria bestimmt.
«Und sonst noch jemand?», fragt er.
«Meine Mutter. Ich rufe jeden Sonntag an. Ihr habe ich erzählt.»
Nelson sieht sich in der Wohnung um, betrachtet das schlafende Kind unter den blauen Sternen, die Statue der Muttergottes, die kahlen Wände, die Pflegeuniform an der Tür und die Frühstücksteller, die schon neben der Spüle bereitstehen. Er denkt an den Brief in seiner Tasche. Wusste noch jemand, dass er existiert?
«Machen Sie sich nicht so viele Sorgen, Maria», sagt er. «Das war bestimmt nur ein Obdachloser, der einen Unterschlupf für die Nacht gesucht hat. Aber ich schicke alle halbe Stunde einen Streifenwagen vorbei, damit er nicht wiederkommt. Und wenn Sie trotzdem noch Angst haben, rufen Sie mich an.»
«Oder mich», sagt Clough.
«Sie sind sehr nett», sagt Maria. «Aber jetzt Sie gehen besser. George muss schlafen.»
Auf der Heimfahrt, die er mit offenen Fenstern absolviert, um nicht einzuschlafen, denkt Nelson an Maria und ihre zarten, mitfühlenden Bande zu Archie Whitcliffe. Warum hat der alte Mann ihr seine Bücher hinterlassen? Warum hat er sie zur Hüterin des Geheimnisses erkoren, das er so lange und erfindungsreich gewahrt hat? Hat
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