Gezeitengrab (German Edition)
stolz darauf.
«Wir sind Archäologen», verkündet Trace großspurig. «Und wir müssen wirklich dringend telefonieren.»
Ruth kann die Denkblase, die sich über dem Kopf des Mannes bildet, förmlich sehen: Wie kann denn etwas dringend sein, was mit Archäologie zusammenhängt? Befassen sich solche Leute nicht mit der Vergangenheit – mit lange verstorbenen Leichen, antiken Kunstgegenständen, verstaubten Museumsstücken? Wieso also stehen diese drei hier keuchend und meerwasserfeucht in seiner Einfahrt und wollen dringend telefonieren? Doch was die Denkblase auch immer behaupten mag, die Sprechblase bleibt unvermindert höflich. «Sie können gerne das Telefon im Haus benutzen», sagt der Mann, «kommen Sie mit.»
Schweigend folgen sie ihm ins Haus, und die beiden Cocker trotten folgsam hinterher. Aus der Nähe wirkt Sea’s End House noch sehr viel mehr wie ein Spukschloss mit seinen grauen Steinmauern, den kleinen Stabwerkfenstern und einem eisenbeschlagenen Portal, das eher zu einer Burg passen würde. Letzteres führt in eine gewaltige holzgetäfelte Eingangshalle. Ein Buntglasfenster malt grüngoldene Flecken auf die Bodendielen, und von der Wand blickt der ausgestopfte Kopf eines Hirsches missmutig auf sie herab. Ruth fühlt sich sofort an ein Privatinternat erinnert, was umso erstaunlicher ist, als sie selbst auf einer Gesamtschule im typischen Sechziger-Jahre-Stil war. Fast riecht sie schon das Schulessen: Kohl und verkochtes Lammfleisch.
«Nette Hütte haben Sie da», sagt Ted.
Der Mann antwortet mit einem ironischen Grinsen, dann führt er sie weiter durch eine Tür in der Holztäfelung, einen steinernen Gang entlang und in eine geräumige Küche. Die Dienstbotenräume, denkt Ruth.
Außerdem denkt sie, dass eigentlich sie den Anruf tätigen sollte, doch Trace hat schon nach dem Hörer gegriffen, sodass Ruth und Ted nichts anderes übrigbleibt, als mit ihrem neuen Freund vor einem Küchentisch zu stehen, der locker zwanzig Personen Platz bieten würde.
«Darf ich mich vorstellen? Ich bin Jack Hastings.»
Jack Hastings? Während sie ihm die Hand gibt, zerbricht sich Ruth den Kopf über den Namen. Sie ist sich sicher, ihn schon mal gehört zu haben. Ist der Mann Schauspieler? Arbeitet er an der Universität? Ist er der Wetterfrosch aus den Nachrichten?
Aber zum Glück gibt es ja Ted, der immer sagt, was er denkt. «Sie sind doch dieser Abgeordnete, stimmt’s?»
«Europaabgeordneter», berichtigt Hastings lächelnd.
«Ich hab neulich im Fernsehen gesehen, wie Sie gegen die Franzosen gewettert haben.»
Hastings lächelt weiter. Er hat ein sehr charmantes Lächeln – wahrscheinlich setzt er es deshalb so häufig ein. «Wir Briten wettern seit Jahrhunderten gegen die Franzosen. Das ist Teil einer langen Tradition.»
Ruth hat den Eindruck, dass Hastings großen Wert auf lange Traditionen legt. Er ist ein attraktiver Mann um die sechzig, rotblond und etwas kleiner als der Durchschnitt. Seine mangelnde Körpergröße macht er durch eine betont aufrechte Haltung wett: Ruth hat noch nie einen Mann gesehen, der sich so gerade hält, das Kinn leicht nach oben gereckt, das Gewicht auf den Fußballen. Fast wippt er auf den Zehenspitzen, während er ihnen da in der Küche gegenübersteht; er hat die Augenbrauen hochgezogen, und sogar seine Haare stehen ein bisschen in die Höhe.
Hinter sich hört Ruth Trace sagen: «Ja, ich geb sie Ihnen», und kann sich einer gewissen Befriedigung nicht erwehren. Sie nimmt den Hörer und erklärt dem Gerichtsmediziner, dass die Knochen nach ihrer Einschätzung weniger als hundert Jahre alt sein müssen. Nein, es besteht keine unmittelbare Gefährdung durch die Flut; ja, die Polizei ist bereits informiert. Der Gerichtsmediziner verspricht, die Genehmigung auszustellen, damit die Bergung am Montag beginnen kann.
Als Ruth aufgelegt hat und sich umdreht, sitzen Trace und Ted am Küchentisch, und Hastings ist beim Teekochen. Ted grinst sie an, Trace weicht ihrem Blick aus.
«Darf ich Sie auch noch nach Ihrem werten Namen fragen?», erkundigt sich Hastings freundlich.
«Ruth. Doktor Ruth Galloway.»
«Einen Tee, Doktor Galloway?»
«Gerne.»
«Mit Milch und Zucker?»
«Nur mit Milch.»
«Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Teebeutel? Meine alte Mutter, die bei uns lebt, besteht immer darauf, eine richtige Teekanne zu nehmen, mit Teesieb und Kannenwärmer und allem Chichi, aber das ist mir einfach zu viel.»
«Also, ich steh auf Chichi», sagt Ted mit dem breiten
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