Gezeitengrab (German Edition)
vorschnellen Schlüsse», sagt Nelson.
«Trotzdem», fährt Clough hastig fort, um Nelsons traditionellem Vortrag über die Gefahren vorschneller Schlüsse zu entgehen, «das ist doch irgendwie seltsam. Vier Skelette in einem Grab. Und dann noch an einem so abgelegenen Ort. Die meiste Zeit kommt man da wegen der Flut doch gar nicht hin.»
«Im Moment wissen wir noch gar nichts. Nachher sind die Skelette wieder aus der Scheißsteinzeit.» Nelson erinnert sich noch lebhaft an seine erste Begegnung mit Ruth Galloway. Er hatte sie hinzugezogen, um eine Leiche zu begutachten, die am Rand des Salzmoors gefunden worden war. Nelson vermutete, dass es vielleicht ein ermordetes Kind sein könnte, und in gewisser Weise hatte er damit auch recht behalten. Nur war dieses Kind bereits seit mehr als zweitausend Jahren tot.
«Trace sagt, Ruth hält die Knochen für relativ zeitgenössisch», sagt Clough.
«Ruth hat auch nicht immer recht», brummt Nelson.
Prompt sieht er, als sie am Strand von Sea’s End halten, als Erstes Ruth, tadelnswerterweise mit Baby im Tragetuch.
«Warum in aller Welt hast du denn Katie mitgebracht?»
«Die Tagesmutter ist krank», sagt Ruth.
«Was denkst du dir bloß dabei? Ist doch viel zu kalt für ein Baby.»
«Sie ist gut eingepackt.»
Tatsächlich sieht Katie aus wie ein kleiner Eskimo. Sie trägt einen dieser Ganzkörperanzüge mit eingebauten Füßlingen und Handschuhen. Und schläft tief und fest.
«Ich hatte keine Zeit, noch etwas anderes zu organisieren», sagt Ruth.
«Was ist mit Shona?»
«Die unterrichtet.»
Nelson ist klar, dass er nicht mehr sagen kann. Zumindest nicht hier. Er funkelt Ruth an und stapft dann über die Kiesbank davon. Diese Bucht gefällt ihm überhaupt nicht: Irgendwie kriegt man hier Platzangst, mit der steilen Felswand auf der einen und dieser hausgewordenen Abscheulichkeit auf der anderen Seite. Nelson sieht zu den Zinnen von Sea’s End House hinüber. Da wohnt wohl Whitcliffes Kumpel. Man sollte keinem Menschen trauen, der die britische Flagge hisst. Und alles so verdammt grau hier: graue Felsen, graues Meer, grauer Himmel. Nelson hat sehr genaue Vorstellungen davon, wie ein ordentlicher Strand auszusehen hat, und das heimatliche Blackpool kommt dieser Vision bis heute auffallend nahe: Sand, Vergnügungsparks und Reitesel. Nicht diese gottverlassene Geröllhalde am Arsch der Welt. Hier gibt es ja nicht mal einen Spielautomaten!
Am anderen Ende der Bucht ist ein Spalt in der Felswand, kaum einen Meter breit. Dort steht Ted, der verrückte Ire, und schaufelt Steine beiseite. Auch Trace ist da und hat ihr Handy am Ohr. Nelson sieht, wie Clough ihr zaghaft zuwinkt. Erbärmlich.
«Einen wunderschönen guten Morgen», begrüßt ihn Ted.
«Ist das die Stelle, wo die Skelette aufgetaucht sind?»
«Ja, in der Nische hier. Der Zugang war durch einen Felssturz versperrt. Den habe ich aber jetzt größtenteils weggeräumt.»
«Wir haben schon einen Teil ausgehoben.» Ruth tritt neben ihn. «Nicht ganz einfach, weil wir wenig Platz zum Graben haben.»
In dem schmalen Zwischenraum zwischen den beiden Felswänden ist ein ordentlicher Graben ausgehoben. Nelson betrachtet ihn anerkennend. Archäologen können einem zwar ganz schön auf den Senkel gehen, aber er ist voller Bewunderung für ihre Gräben. So gerade Wände kriegen seine Jungs von der Spurensicherung einfach nicht hin. Dann schaut er genauer hin. Der ganze Graben liegt voller Knochen.
«Mein Gott», sagt er. «Wie viele sind das denn?»
«Nicht mehr als sechs, schätze ich.» Ruth beugt sich vor, und Nelson schaut besorgt auf Kate, die in ihrem Tragetuch hängt. Wie sicher die Dinger wohl sind?
«Kannst du sagen, wie alt sie sind?», fragt er.
«Ich glaube, sie sind relativ zeitgenössisch», antwortet Ruth. «Knochen, die im Sand vergraben sind, lösen sich normalerweise nach ein paar hundert Jahren auf.»
Nelson ist immer wieder erstaunt, was Archäologen so alles als zeitgenössisch bezeichnen. «Dann sind sie also um die hundert Jahre alt?»
«Ich würde sagen, sie sind jünger», meint Ruth zögernd. «Wir werden eine C14-Datierung vornehmen. Es sind aber auch noch Haare und Zähne da. Wir können also verschiedene Tests machen.»
Von früheren Fällen weiß Nelson, dass bei der C14- oder Radiokarbondatierung die Konzentration des Kohlenstoff-Isotops C14 im Körper gemessen wird. Nach dem Tod nimmt man kein C14 mehr auf, und es baut sich langsam ab, sodass ein Archäologe das Alter eines
Weitere Kostenlose Bücher