Gezeitengrab (German Edition)
irischen Akzent, den er mitunter aufsetzt.
Hastings lacht herzlich. «Und?», sagt er dann, «wollen Sie mir erzählen, was Sie da unten am Strand gefunden haben?»
Ruth würde ihm am liebsten sagen, dass ihn das nichts angeht, aber Trace will ihre Autorität zurückgewinnen. «Wir gehören zu einer Forschergruppe, die sich mit den Auswirkungen von Küstenerosion im Norden von Norfolk befasst.»
Jack Hastings’ Miene verdüstert sich. «Kommen Sie mir bloß nicht mit Erosion.»
Hatten wir gar nicht vor, denkt Ruth, aber Hastings ist schon nicht mehr zu stoppen.
«Mein Grundstück verschwindet Tag für Tag ein bisschen mehr. Allein in den letzten drei Jahren so viel wie in den fünfzig Jahren zuvor. Ich habe fast einen Kilometer Land verloren. Jeden Morgen gehe ich nach draußen, um nachzusehen, was nach der Nacht von meinem Garten noch übrig ist. Drei Stationen der Küstenwache sind schon ins Meer gefallen. Der Martello-Turm ist verschwunden, der Leuchtturm schwer baufällig. Wir können nicht mal mehr das Rettungsboot zu Wasser lassen, weil die Rampe nicht mehr da ist. Aber kümmert das die Stadtverwaltung? Nein! Verdammte Sozis!»
Dieser Bemerkung entnimmt Ruth, dass Jack Hastings wohl nicht die Interessen der Labour-Partei vertritt.
«Es kostet eben einen Haufen Geld, das Meer einzudämmen», gibt Ted zu bedenken.
«Richtig, aber wo soll das enden?», erwidert Hastings, sichtlich bemüht, sich wieder zu beruhigen. «Als Nächstes werden die Broads überflutet. Dann verschwindet ganz Norfolk.»
Ruth muss kurz daran denken, wie Nelson sich über diese Prognose freuen würde. Laut sagt sie: «Wohnen Sie denn schon lange hier, Mr. Hastings?»
«Mein ganzes Leben lang. Mein Vater hat dieses Haus in den Dreißigern erbaut.»
«In den Dreißigern?» Trace ist erstaunt. «Es sieht aber älter aus.»
«Nein. Später Jugendstil, tut mir leid. Mögen Sie Pfefferkuchen? Meine Frau backt sie selber, sie sind wirklich lecker.» Ruth nimmt sich einen Pfefferkuchen, Trace winkt schaudernd ab. Wahrscheinlich würde sich ihre tägliche Kalorienzufuhr dadurch verdoppeln.
Ruth hofft bereits, die Aussicht, Norfolk könnte im Meer versinken, hätte Hastings vielleicht von dem wichtigen Telefonat abgelenkt, doch da unterschätzt sie den Politiker in ihm. Mit strahlendem Lächeln wendet er sich wieder Trace zu.
«Und was haben Sie heute entdeckt? Eine Leiche?»
«Vier sogar», antwortet Trace patzig.
Für einen Moment sagt keiner etwas. Ted lümmelt mit breitem Grinsen auf seinem Stuhl. Ruth fixiert Trace mit zornigem Blick, was die aber kein bisschen beeindruckt. Und Jack Hastings sieht sekundenlang völlig ausdruckslos drein, als hätte man ihm allen weltmännischen Charme vom Gesicht gewischt. Ruth fällt auf, wie hell seine Augen sind; sie wirken fast farblos unter den rotblonden Brauen. Dann knipst er sein Lächeln wieder an, und seine Miene wird warm und lebhaft.
«Vier Leichen! Das ist aber ungewöhnlich. Wo haben Sie die denn gefunden?»
«Es handelt sich um eine polizeiliche Ermittlung», sagt Ruth. «Wir sind nicht befugt, darüber zu reden.»
Jetzt hört sie sich selbst schon an wie eine Polizistin. «Nicht befugt, darüber zu reden»! Ihr ist bereits aufgefallen, wie oft Nelson und Konsorten auf solche Phrasen zurückgreifen. Aus Ruths eigenem Mund klingen sie aber irgendwie nicht richtig.
Hastings allerdings nickt einsichtig. «Natürlich nicht. Aber falls ich Sie irgendwie unterstützen kann …»
«Sie haben uns schon sehr geholfen», sagt Ruth.
«Wie gesagt, ich wohne schon mein ganzes Leben hier. Es gibt kaum etwas im Dorf, was ich nicht wüsste.»
Wieder wird es still, während alle darüber nachdenken, wie dann jemand vier Leichen vor Hastings’ Haustür vergraben konnte, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte.
«Können Sie sagen, wie lange sie schon dort liegen, Ruth?», fragt Hastings schließlich.
Ruth registriert, dass er sie jetzt beim Vornamen nennt und offenbar als Autorität anerkennt. Sie registriert aber auch, dass er die wichtigste Frage überhaupt gestellt hat.
«Das wissen wir erst, wenn wir die Skelette geborgen und ein paar Untersuchungen durchgeführt haben», antwortet sie.
Hastings greift das umgehend auf. «Dann sind es also nur Knochen?»
«Das kann ich Ihnen nicht beantworten», sagt Ruth. «Die Polizei wird bald hier sein und das Areal absperren. Am Montag fangen wir mit den Ausgrabungen an.»
«Ich stelle Ihnen Sea’s End House gerne als Basislager zur
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