Gezeitengrab (German Edition)
Verfügung», sagt Hastings. «Die meiste Zeit sind Stella und ich sowieso allein hier. Und Mutter natürlich. Da wird das Haus schnell ein bisschen groß.»
Ruth denkt bei sich: Und warum ziehen Sie dann nicht aus? Vor allem angesichts der Tatsache, dass Ihr Haus Stück für Stück im Meer versinkt.
«Die Kinder sind längst aus dem Haus», fährt Hastings mit wehmütigem Lächeln fort. «Jetzt sind nur noch wir alten Knacker und die Hunde übrig.» Er tätschelt den nächstbesten Cocker, der hingebungsvoll zu ihm aufblickt.
«Wie viele Kinder haben Sie denn?», fragt Ted.
«Drei. Alastair, Giles und Clara. Die Jungs sind beide verheiratet und haben bereits eigene Kinder. Clara ist die Jüngste. Sie ist gerade mit dem Studium fertig geworden und weiß noch nicht recht, was sie weiter mit sich anfangen soll.»
«Sie können ihr schon mal ausrichten, dass man mit Archäologie nicht reich wird», meint Ted.
Hastings lacht. «Oh, Clara möchte die Welt retten. Sie war gerade erst in Afrika, hat dort Latrinen ausgehoben und weiß der Himmel, was noch alles.»
«Klingt nach einem tollen Mädchen», sagt Ruth. «Wir sollten uns langsam auf den Weg machen.»
«Wir haben es doch nicht eilig», sagt Trace. «Die Polizei ist ja noch gar nicht da.»
«Aber ich muss meine Tochter von der Tagesmutter abholen.»
Als Ruth aufschaut, sieht sie gerade noch Traces abfällig-amüsierten Blick.
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4
«Vier Skelette, sagen Sie?»
«Laut Ruth Galloway mindestens vier.»
Es ist Montag, und Nelson ist aus dem Urlaub zurück. Eigentlich hat er für neun Uhr eine Teamsitzung einberufen, doch die verhindert gerade sein Chef, Superintendent Gerald Whitcliffe, der «auf ein Wort» in Nelsons Büro gekommen ist und sich jetzt auf Nelsons schönen, makellosen Erledigungslisten abstützt.
«Ich dachte mir, Harry, ich gebe Ihnen ein kurzes Briefing.»
Briefing? Was zum Geier soll denn das sein? Manchmal kommt es Nelson so vor, als sprächen sein Chef und er zwei verschiedene Sprachen, was mit Sicherheit nicht nur daran liegt, dass Nelson ursprünglich aus Blackpool stammt und Whitcliffe aus Norwich. Aber keinesfalls wird er Whitcliffe den Triumph gönnen, ihn um eine Übersetzung zu bitten.
«Die Sache könnte nämlich ein wenig heikel werden.»
«Inwiefern?»
«Nun, die Leichen liegen direkt vor dem Haus von Jack Hastings.»
Nelson meint den Namen zu kennen, aber er ist noch nicht wieder richtig im Arbeitsmodus. Lanzarote ist zwar nicht am anderen Ende der Welt, hat sich aber doch so angefühlt. Michelle und Lisa haben Adressen ausgetauscht, und für die Osterferien ist ein weiteres Treffen der beiden Paare geplant.
«Wer ist Jack Hastings?»
Whitcliffe lacht nachsichtig. «Auf welchem Planeten leben Sie bloß, Harry? Das ist dieser Europaabgeordnete, der die ganze Zeit jammert, dass sein Haus demnächst im Meer versinkt und die Regierung nichts dagegen unternimmt. Er wohnt in Broughton Sea’s End, in dem großen, festungsartigen Haus oben auf dem Felsen. Haben Sie seinen Dokumentarfilm nicht gesehen? König im eigenen Heim ?»
«Muss ich wohl verpasst haben.»
«Jedenfalls liegen unsere Knochen genau am Fuß dieses Felsens. In der Bucht neben Hastings’ Haus.»
«Und wo ist das Problem? Er wird doch wohl nicht unsere Ermittlungen behindern?»
Das sagt Nelson mit einer gewissen Ironie, eingedenk einiger anderer einflussreicher Bekannter von Whitcliffe, die sich der Polizei gegenüber nicht immer aufgeschlossen gezeigt haben. Doch Whitcliffe kriegt das gar nicht mit. Er versteht nie, wenn Nelson einen Witz macht; er hält das einfach für typisch nordenglisches Verhalten.
«Selbstverständlich nicht. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass wir streng nach Vorschrift vorgehen. Wir können uns da keine Mauscheleien leisten.»
«Ich mauschele doch nie», sagt Nelson. Das meint er jetzt tatsächlich als Witz.
Eine Stunde später sind Nelson und Clough im Wagen unterwegs nach Broughton Sea’s End. Normalerweise fährt der rangniedrigere Beamte, aber Nelson hält es auf dem Beifahrersitz nicht aus, und Clough hat die Hände lieber zum Essen frei, und so brausen sie jetzt in Nelsons schmutzig weißem Mercedes mit siebzig die kurvige Küstenstraße entlang.
«Und, Boss?», fragt Clough, während die Nordküste Norfolks unscharf und verschwommen an ihnen vorbeifliegt: Campingplätze, Pubs, Dünen, Kurzgolfplätze. «Glauben Sie, wir haben’s wieder mit einem Serienmörder zu tun?»
«Ich ziehe keine
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