Gezeitengrab (German Edition)
Deutschen versöhnen. Versöhnen! Da krieg ich das kalte Kotzen.»
Craig sieht mit zufriedenem Lächeln zu Boden. Ruth nutzt diesen kurzen unachtsamen Moment, um auf die Tasten des Handys in ihrer Jackentasche zu drücken, in der Hoffnung, jemanden zu erreichen, egal wen. «Hilfe», sagt sie dann laut. «Ich bin am Strand hinter Broughton. Craig will mich umbringen.»
«Was machst du da?» Craig ist sofort wieder ganz da und sieht sie aus zusammengekniffenen Augen an.
«Nichts.»
«Gib mir das Handy.»
«Ich habe gar keins dabei.»
Craig kommt näher heran, drückt ihr die Pistole an den Kopf und zieht ihre Hand aus der Jackentasche. Dann löst er ihre Finger vom Handy und wirft es ins Meer. Ruth hört es platschen und stöhnt unwillkürlich auf. Ihr Handy! Es enthält ihr ganzes Leben. Und jetzt liegt es auf dem Meeresgrund zwischen Krebsen und rostigen Getränkedosen.
«Versuch so was nicht noch einmal, Ruth. Ich bin ein erstklassiger Schütze. Das habe ich von meinem Großvater gelernt.»
«Wie das Gärtnern.»
«Genau. Meine Familie kümmert sich immer schon um den Garten von Sea’s End House. Sogar jetzt, wo es kaum noch einen Garten gibt, pflege ich ihn noch. Ich kümmere mich um ihn.»
Pflegen. Kümmern. Wie seltsam diese Worte aus dem Mund eines Mörders klingen. Hat dieser Mann mit der sanften Stimme, der zudem noch Archäologe ist, wirklich drei Menschen umgebracht?
«Ich bin froh, dass ich den Deutschen getötet habe», fährt Craig fort. «Er wollte Captain Hastings und seine Truppe doch nur in den Dreck ziehen. Dabei war er es nicht mal wert, ihnen die Stiefel zu lecken. Außerdem hat er Clara betrogen. Er hat mir erzählt, dass er verheiratet ist, richtig geprahlt hat er, als wir mal zusammen im Pub saßen. Deshalb habe ich an dem Abend hier auf ihn gewartet. Ich habe nämlich den Schlüssel zum Gartenschuppen und bin einfach dageblieben, nachdem ich mit der Gartenarbeit fertig war. Eckhart saß im Wagen und hat irgendwem gesimst. Wahrscheinlich seiner Frau. Ich habe ihn um Hilfe gebeten, ihm erzählt, mein Wagen springt nicht an. Und als wir auf dem Parkplatz waren, habe ich ihn erstochen und ins Meer geworfen.»
«Clara war fix und fertig. Du hast ihr das Herz gebrochen.»
Craig lacht. «Sie wird schon drüber wegkommen. Eine Hastings kann doch keinen Deutschen heiraten und die direkte Linie guten englischen Blutes verderben. Nein, Clara ist zu Höherem bestimmt. Vielleicht heirate ich sie sogar.»
Träum weiter, denkt Ruth. Die Familie Hastings würde doch nie zulassen, dass ihre Tochter den Gärtner heiratet. Für sie ist Craig Dienstpersonal, so wie sein Großvater vor ihm. Da hätten sie noch eher erlaubt, dass Clara Dieter Eckhart heiratet. Gesellschaftliche Klasse wiegt schwerer als Nationalität. Doch das alles sagt sie Craig besser nicht. Sie muss dafür sorgen, dass er weiterredet, sein Mitleid erregen.
«Bitte lass mich leben, Craig. Ich habe ein Kind. Das braucht mich.»
«Dein Kind! Bei dem bist du doch nie. Es wird dich nicht vermissen, es kriegt dich ja sowieso nie zu sehen.»
Noch ein Loblied auf ihre Fähigkeiten als Mutter. Doch Ruth weiß genau, dass Kate sie braucht, und aus diesem einen Grund wird sie nicht zulassen, dass man sie umbringt. Sie wirft sich zur Seite, sodass die morschen Planken des Bootes bersten. Craig schießt, doch er verfehlt sie. Stattdessen trifft die Kugel eines der Fässer. In Sekundenschnelle steht das ganze Meer in Flammen.
Nelson sieht den Rauch von den Felsen bei Rockham aufsteigen. Judy und Clough sind noch nicht da, aber er kann nicht länger warten. Er lässt den Wagen auf dem Gras stehen und eilt zur Treppe, einer wackligen Holzkonstruktion, vor der ein Schild seine unzweideutige Botschaft verkündet: «Vorsicht! Nicht bei Flut benutzen! Ertrinkungsgefahr!» Als Nelson die glitschigen Stufen hinunterrennt, sieht er unter sich einen halbkreisförmigen Kiesstrand. Eine Reihe grauer Felsen trennt den Strand von der nächsten Bucht, doch die Wellen sind noch nicht ganz an der Felswand. Noch hat er eine Chance, Ruth zu retten. Der Rauch steigt hoch in die Luft hinauf, als hätte jemand eine Signalrakete gezündet. Was zum Teufel ist da los? Will Ruth damit seine Aufmerksamkeit erregen? Das ist ihr dann allerdings gelungen …
Stolpernd rennt er über den Kiesstrand. Michelle wollte ihm irgendwann mal einreden, das wäre gut für die Fitness. Im Moment kommt es ihm aber eher vor wie Folter, wie einer dieser Albträume, in denen man
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