Gezeitengrab (German Edition)
aufregend», meint sie. «Aber ich glaube, am schönsten ist es doch, mit jemandem zu schlafen, der jeden Zentimeter deines Körpers kennt.»
«Nette Vorstellung.»
Ruth fährt herum. Nelson steht hinter ihr. Sie spürt, wie sie mindestens so rot wird wie die Glut des Feuers draußen.
«Das ist ein Frauengespräch», sagt Judy.
«War mir schon aufgefallen. Wir gehen jetzt, Ruth. Danke für den … also, vielen Dank.»
«Hast du mit Dieter geredet? Wegen der Toten?»
«Wir haben uns nur kurz unterhalten. Er wirkte ein bisschen abgelenkt.»
Ruth schaut zum Sofa hinüber, wo Dieter und Clara wieder Stirn an Stirn sitzen. Er streichelt ihr den Nacken.
«Das ist doch die Tochter von Jack Hastings, oder?», fragt Nelson.
Ruth nickt.
«Ich wüsste ja gern, was der dazu sagt, dass sie hier mit einem Deutschen knutscht.»
«Kein Wort über den Krieg», sagt Ruth warnend.
«Klar. Na, dann – tschüs.» Er beugt sich vor, als wollte er sie auf die Wange küssen, dreht dann aber in letzter Sekunde doch noch ab. Michelle schwebt heran und zieht Ruth in eine duftende Umarmung.
«Wir müssen uns ganz bald wieder treffen», sagt sie.
«Was in aller Welt findet sie bloß an ihm?», sagt Judy, als die Tür sich hinter den Nelsons geschlossen hat.
«Vielleicht ist es ja sein funkelnder Geist.»
«Kann ich mir nicht vorstellen.»
Tatjana kommt heran, um sich Punsch nachzuschenken.
«Dieser Nelson», sagt sie, «der ist wirklich attraktiv.»
Judy schnaubt abfällig und wendet sich Cathbad zu.
«Findest du?», fragt Ruth.
«Ja», meint Tatjana verträumt. «Er wirkt so energisch und düster. Ich bin sicher, er hat irgendein Geheimnis.»
Ruth wirft ihr einen raschen Blick zu, doch Tatjana blickt versonnen in die Punschschale. In der Küche haben Ted und Clough ein Lied angestimmt: «I wanna be near you. You’re the one, the one for me.»
Tatjana sieht Ruth von der Seite an. «Und ich glaube, ich habe da einen Funken gespürt.»
«Was?»
«Ich glaube, er fühlt sich zu mir hingezogen», sagt Tatjana. «Ich habe es genau gespürt.»
Ruth antwortet nichts darauf. Sie weiß nicht recht, was sie mit dieser neuen, erotisch selbstbewussten Tatjana anfangen soll. Ihr war die zurückhaltende junge Frau lieber, die mit ihr im Pinienhain saß und weintrinkend den Wölfen trotzte.
Schließlich sagt sie: «Er ist verheiratet.»
«Und seine Frau ist sehr schön», meint Tatjana. «Aber nicht intelligent genug für ihn, scheint mir.»
«I wanna be near you» , grölen Ted und Clough aus der Küche. «You’re the one for me.»
Mit einem Mal ist Ruth furchtbar müde. Am liebsten würde sie sich hinlegen und eine Woche durchschlafen. Ob es wohl sehr unhöflich ist, einfach ins Bett zu gehen und den Gästen zu sagen, sie sollten das Licht ausmachen, wenn sie gehen?
Judy taucht wieder neben ihr auf. «Tschüs, Ruth. Vielen Dank für den schönen Abend.»
«Du fährst aber jetzt nicht mehr, oder?» Ruth weiß nicht genau, was in dem Punsch war, ist sich aber sicher, dass es eine Menge Alkohol gewesen sein muss.
«Nein, Trace nimmt mich mit. Vorausgesetzt natürlich, sie kriegt Cloughie vom Singen losgeeist.»
Im Nebenzimmer findet das Konzert ein abruptes Ende. Und Ruth beneidet Trace nicht zum ersten Mal um ihre natürliche Autorität.
«Du musst unbedingt zu meinem Junggesellinnenabend kommen», sagt Judy. «Nächste Woche Samstag. Ich sterbe vor Angst.»
«Wieso soll ich denn dann kommen?», fragt Ruth lachend. «Damit ich auch vor Angst sterbe?»
«Ich brauche Unterstützung.» Judy wendet sich höflich an Tatjana, die noch immer neben der Punschschüssel steht. «Sie müssen auch kommen. Dann erleben Sie mal einen schönen englischen Brauch.»
Und zu Ruths Überraschung sagt Tatjana: «Sehr gerne.»
Ted lässt sich ebenfalls von Trace mitnehmen, und so bleiben nur Cathbad, Ruth, Freya und Tatjana übrig, um den Abwasch zu machen und die letzten Chips aufzuessen. Phil und Shona haben sich schon kurz nach der Zeremonie verabschiedet, und Dieter und Clara sind einfach so verschwunden.
«Das war ein hochinteressantes Erlebnis», sagt Tatjana zu Cathbad.
«Es ist immer wichtig», erwidert Cathbad, «ein Baby mit den Hausgöttern bekannt zu machen.»
Tatjana platziert die Gläser ordentlich nebeneinander in der Spüle.
«Und, Cathbad», sagt sie, «wie lange sind Sie schon Teufelsanbeter?»
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15
Am nächsten Morgen fährt Nelson in düsterer Verfassung zur Arbeit. Der gestrige Abend hat
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