Gezeitengrab (German Edition)
von einem schweren Eisengrau. Nicht gerade der geeignete Tag für einen schönen Spaziergang auf dem Land, doch Tatjana interessiert sich für die römischen Ausgrabungen in der Nähe von Norwich, und Ruth, die an diesem Vormittag nicht unterrichten muss, ist wild entschlossen, ihrem Besuch etwas zu bieten. Außerdem kennt sie die Ausgrabungsstätte ganz gut. Im Jahr zuvor wurde sie hinzugezogen, als in einem der Gräben menschliche Knochen gefunden wurden. Der Archäologe, der die Ausgrabung leitet, heißt Max Grey und ist Fachmann für alles Römische. Er ist intelligent und attraktiv, und manchmal gestattet sich Ruth den einen oder anderen durchaus unprofessionellen Gedanken an ihn. Doch es sind auch düstere Erinnerungen mit der Ausgrabungsstätte verknüpft: ein Untier, das des Nachts dort herumstrich, Buchstaben, mit Blut geschrieben, ein toter Säugling. Ruth erschauert und zieht ihren Anorak enger um sich. Tatjana sieht in ihrer trendigen Wildlederjacke schon halb erfroren aus.
«Ich hatte ganz vergessen, wie kalt es in England ist.»
«In Cape Cod ist es doch bestimmt auch kalt.»
«Stimmt, aber in unseren Häusern ist es wärmer.»
Tatjana hat nicht viel von ihrem Leben in Amerika erzählt. Anscheinend verbringen Rick und sie einen Großteil ihrer Zeit mit Segeln und dem Kochen edler Menüs. Ruth hat Fotos von einem weißen Bungalow gesehen, von gleißenden Autos und strahlenden Menschen und einem großen, glänzenden Segelboot. Sie denkt an ihr eigenes Häuschen, an das Gästezimmer, das immer noch halb mit Kisten vollsteht, an ihren klapprigen Renault 5. «Du hast es wirklich weit gebracht, Tatjana», hat sie einmal gesagt. «Doppelverdiener ohne Kinder», erwiderte Tatjana, und ihre Miene wurde sofort verschlossener.
Oben auf dem Hügel fällt der Boden gleich wieder ab. Für das ungeübte Auge gibt es dort nicht viel zu sehen, nur ein paar grasbewachsene Wälle und Mulden, einen Graben, der sich nach Süden hin erstreckt, und ein etwas verloren wirkendes Schild. Doch Tatjana schnappt nach Luft. «Das ist ja eine richtig große Siedlung.»
«Ja. Max glaubt, dass es sich um einen Vicus handelt, eine Garnisonsstadt. Die Straße …» Ruth deutet auf den Graben. «… führt direkt zum Meer.»
Tatjana nähert sich dem Schild, dem einzigen Hinweis auf das Geld, mit dem die Ausgrabung finanziert wurde. Max hofft, im kommenden Jahr weitere Drittmittel zu erhalten. Er sagt, die halbe Stadt befinde sich eigentlich noch unter der Erde.
«Hier steht, dass unter den Mauern Leichen gefunden wurden.»
«Stimmt. Max vermutet, dass es sich um Fundamentopfer handelt. Du weißt schon, Opfergaben an Janus.»
«Den Gott der Türen und Tore?»
«Genau, und auch des Anfangs und des Endes.»
Tatjana macht ein nachdenkliches Gesicht. «Ich hätte gedacht, Menschenopfer gibt es eher bei den Kelten als bei den Römern.»
«Tja, die Römer haben eben ein paar Götter und Bräuche von den Kelten übernommen. In der Hinsicht waren sie sehr pragmatisch.»
Tatjana wendet sich ab. «Bestimmt waren auch die Kelten pragmatisch. Dazu neigt man, wenn das eigene Land von Fremden erobert wird.»
Ruth verflucht sich innerlich. Wie zum Geier sind sie bloß wieder auf Bosnien gekommen? Doch als Tatjana sich wieder umdreht, lächelt sie. «Es ist wunderschön hier oben», sagt sie. «Man sieht kilometerweit.»
«Ja», bestätigt Ruth. «Im Sommer ist es besonders schön. Und ein gutes Pub gibt es auch.»
«Ein Pub», wiederholt Tatjana. «Bekommt man da Bier und Bauernfrühstück?»
«Du nimmst mir die Worte aus dem Mund», sagt Ruth.
Auch Judy bekommt die Kälte zu spüren. Nelson hat sie nach Broughton geschickt und ihr barsch befohlen, mit den Anwohnern dort über den Krieg zu reden. Grundsätzlich keine schlechte Idee, denkt Judy; nur sitzen die Anwohner an einem Tag wie diesem vernünftigerweise alle daheim und sehen fern. Bisher hat sie nur mit einem mürrischen Teenager gesprochen und mit einem verirrten Touristen, der nach Great Yarmouth wollte. Sie ist schon zweimal durch das ganze Dorf gelaufen, was allerdings nicht viel Zeit in Anspruch nimmt. Im Grunde besteht es nur aus einer einzigen, von viktorianischen Reihenhäusern gesäumten Straße; dahinter stehen noch ein paar vereinzelte neuere Häuser. Es gibt nur ein Geschäft, doch manche Häuser sehen aus, als wären dort früher einmal Ladenlokale gewesen. Sie haben breite Schaufenster, die jetzt mit Gardinen verhängt sind, und hier und da stehen noch Namen in
Weitere Kostenlose Bücher