Gezeitengrab (German Edition)
sich angefühlt wie eines dieser wissenschaftlichen Folterexperimente aus Japan, mit denen herausgefunden werden soll, wie viel ein einzelner Mensch in einem kurzen Zeitraum ertragen kann. Er ist durchaus stolz auf seine Selbstbeherrschung, aber es gibt wirklich angenehmere Dinge im Leben, als die eigene Frau mit dem eigenen unehelichen Kind im Arm zu sehen. Und was hat Cathbad da am Feuer eigentlich veranstaltet? Nelson ist überzeugt, dass Cathbad ihn direkt angesehen hat, als er die Götter darum bat, «über dich zu wachen und auch über deinen Vater und deine Mutter». Ob Cathbad weiß, dass Nelson Kates Vater ist? Vor ihrer Geburt hat Cathbad etwas mitangehört, was man als Hinweis interpretieren konnte, und Nelson ist absolut sicher, dass er sich das Wort für Wort gemerkt hat. Außerdem kennt Cathbad viele Leute an der Universität; vielleicht hat Ruth sich ja Shona anvertraut oder womöglich sogar diesem Schleimer Phil. Lieber Himmel, wahrscheinlich weiß inzwischen die gesamte UNN Bescheid. Nelsons Hände am Lenkrad sind schweißnass. Falls das stimmt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Michelle davon erfährt.
Michelle mag Ruth. Sie will ihr helfen. «Sie hat ja wirklich gar keine Ahnung, wie man mit einem Baby umgehen muss», hat sie dem schrecklich nervösen Nelson einmal erzählt, als sie von einem Besuch bei Ruth und der neugeborenen Kate zurückkam. «Heute hat sie doch tatsächlich gelesen.» – « Gelesen ?», wiederholte Nelson aufs Geratewohl. «Ja. Sie hat Kate gestillt und dabei in irgendeinem alten Archäologiebuch gelesen.» – «Und was ist daran so schlimm?»
Michelle lachte. «Mit einem Baby hat man doch gar keine Zeit zum Lesen. Zumindest nicht, wenn man es richtig macht.» Macht Ruth es denn richtig? Sie wirkt längst nicht so entspannt mit dem Baby wie Michelle. Ruth hält Kate immer noch mit großer Vorsicht, als könnte sie gleich explodieren, aber ansonsten scheint sie doch alles so zu machen, wie man es machen soll, und manchmal sieht sie Kate auf eine Weise an, die Nelson fast das Herz zerreißt. Und sie redet ununterbrochen mit der Kleinen, auch wenn sie dabei ihr fünf Monate altes Baby behandelt wie einen ihrer Doktoranden. «Wir gehen jetzt nach draußen, Kate. Vielleicht findest du es anfangs ein bisschen kalt, aber das ist nur der unmittelbare Kontrast zur Temperatur drinnen …»
Nein, aus Nelsons sorgenvoller Perspektive macht Ruth wirklich alles richtig. Er war zwar nicht begeistert, als sie wieder arbeiten wollte, aber die Tagesmutter macht einen zuverlässigen Eindruck – Nelson hat sie sogar noch ein drittes Mal überprüft, ohne Ruth etwas davon zu sagen –, und außerdem weiß er ja, dass sie das Geld braucht, nachdem er sie schwerlich offen unterstützen kann. Er hat ihr angeboten, ihr jeden Monat etwas Geld zu überweisen – Michelle würde er erzählen, es wäre für eine Rentenversicherung oder so was –, aber das wollte Ruth nicht. «Ich will das alleine schaffen», hat sie gesagt. Und diese Äußerung, so mutig und bewundernswert sie in vieler Hinsicht auch sein mag, erfüllt Nelson doch mit großer Angst.
Hat er denn überhaupt irgendwelche Rechte, wenn es um Kate geht? Überhaupt keine, hat ihm der Anwalt erklärt, den er heimlich zu Rate gezogen hat. «Wenn Ihr Name nicht in der Geburtsurkunde steht, existieren Sie gar nicht.» Nelson hat Kates Geburtsurkunde zwar nie gesehen, er ist aber überzeugt, dass «Vater unbekannt» darauf steht. Ruth könnte alles Mögliche anstellen: auswandern, sich einer Kommune anschließen, Kate nicht zur Schule schicken, und er könnte absolut nichts dagegen unternehmen. Mit der heidnischen Taufzeremonie hat sie ja schon angefangen. Seine Mutter würde sich im Grab umdrehen – in das sie der Schock auf der Stelle bringen würde, falls sie je von Kates Herkunft erfahren sollte. Als Cathbad Kate an der Stirn berührt hat, war Nelson selbst erstaunt, wie sehr er sich gewünscht hat, Cathbad oder sonst irgendwer möge das Kreuzzeichen machen. Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wie heißt es doch so schön? Einmal Katholik … Und Kate Scarlet! Was hat Ruth sich bloß dabei gedacht? Bis heute hat er jedes Mal das Gefühl, als bräche ihm das Herz, wenn er den Namen Scarlet hört.
Als er das Revier erreicht, hat der Trübsinn ihn fest im Griff, und der Anblick von Whitcliffe, der in seinem Büro auf ihn wartet, trägt nicht gerade dazu bei, seine Laune zu heben. Der Chef
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