Gezeitengrab (German Edition)
ist bestimmt nicht gekommen, um in Ruhe über weitere Beförderungsmöglichkeiten zu plaudern.
Whitcliffe hat ein Blatt Papier in der Hand. Als er Nelson kommen sieht, springt er auf und hält es ihm unter die Nase.
«Was hat das zu bedeuten?»
Nelson hat seinen Chef noch nie so zornig erlebt. Normalerweise bleibt Whitcliffe immer zurückhaltend und spricht mit leiser, monotoner Stimme. Jetzt aber steht er dicht vor ihm, mit knallrotem Kopf und einer vom Zorn halb erstickten Stimme, in der der Norfolk-Akzent plötzlich sehr viel deutlicher zutage tritt. Seltsamerweise ist er Nelson zum ersten Mal fast sympathisch. Trotzdem weiß er, dass er vorsichtig sein muss. Sehr vorsichtig.
«Was meinen Sie, Sir?» Die Anrede «Sir» hängt er an, um Whitcliffe zu besänftigen.
«Was ich meine? Das hier meine ich!» Whitcliffe wedelt erneut mit dem Blatt. Nelson weicht ein Stück zurück.
«Was ist denn das?» Als ob er es nicht genau wüsste.
«Wie können Sie es wagen … Wie können Sie es wagen, meinen Großvater obduzieren zu lassen!»
«Ich habe meine Gründe, Sir», erwidert Nelson unbeeindruckt.
Sie starren einander zornig an. Whitcliffe atmet immer noch schwer, doch die Röte weicht langsam aus seinem Gesicht, und als er wieder etwas sagt, klingt seine Stimme fast nach Standardenglisch.
«Vielleicht könnten Sie dann so gut sein und mich in Ihre Gründe einweihen.»
«Setzen wir uns doch.» Nelson bemüht sich um einen beruhigenden Ton und hat das Gefühl, die erste Runde für sich entschieden zu haben, vor allem, als Whitcliffe sich auf den Besucherstuhl setzt und Nelson hinter dem Schreibtisch Platz nehmen lässt. Kaum sitzen sie, holt Whitcliffe aber gleich wieder zum Angriff aus.
«Wie konnten Sie das tun, Harry? Hinter meinem Rücken!»
«Ich leite diese Ermittlung», sagt Nelson. «Und ich folge nur den Vorschriften. Ich habe die Gerichtsmedizin verständigt und Ihnen eine Kopie des Antrags zukommen lassen. Sonst wüssten Sie gar nichts davon.»
«Ich weiß alles, was hier passiert», faucht Whitcliffe. Nelson kann nur hoffen, dass das nicht stimmt.
«Hören Sie … ähm … Sir … Mir ist klar, dass das schwierig für Sie ist …»
«Schwierig!» Whitcliffe sieht aus, als würde er gleich platzen.
«Ihr Großvater ist gestorben, das nimmt Sie verständlicherweise sehr mit. Aber ich habe Grund zu der Vermutung, dass es kein natürlicher Tod war.»
«Da bin ich aber mal gespannt», meint Whitcliffe giftig.
«Am Tag, bevor Ihr Großvater starb», berichtet Nelson, «haben Detective Sergeant Johnson und ich ihn wegen der Toten in Broughton Sea’s End befragt. Ich wollte von ihm wissen, ob er sich an einen Vorfall aus seiner Zeit bei der Home Guard erinnert. Seine Antwort lautete: ‹Falls das so wäre, würde ich es Ihnen bestimmt nicht sagen. Wir haben einen Blutschwur geleistet.›»
«Ist das Ihr einziger …»
«Erst habe ich mir nicht viel dabei gedacht», fährt Nelson ungerührt fort, «obwohl ich gleich den Eindruck hatte, dass er etwas verbirgt. In der Nacht darauf starb er.»
«Er war alt. Er hat einen Herzinfarkt erlitten.»
«Vor zwei Wochen», erzählt Nelson weiter, «ist ein weiterer alter Mann gestorben. Er hieß Hugh Anselm und hat zusammen mit Ihrem Großvater bei der Home Guard gedient. Kurz vor seinem Tod schrieb er einem deutschen Historiker, dass in Broughton während des Krieges etwas Schreckliches passiert sei. Zwei Wochen danach war er tot. Er starb auf seinem Treppenlift, der auf halbem Weg stehen geblieben war. Es könnte sein, dass er vorsätzlich angehalten wurde.»
Einen Moment schweigen beide. Gerry Whitcliffe mustert Nelson, als versuchte er, seine Gedanken zu lesen. Nelson hält seine Miene ausdruckslos. Im Hintergrund hört er Clough und Tanya darüber zanken, wer mit Schokoladeholen dran ist.
«Wollen Sie damit andeuten …», sagt Whitcliffe.
«Ich will gar nichts andeuten, Sir», erwidert Nelson. «Aber für meinen Geschmack sind das einfach ein paar Zufälle zu viel. Sowohl Mr. Whitcliffe als auch Mr. Anselm starben, ehe sie ihre Geschichte erzählen konnten. Das gefällt mir nicht. Kein bisschen.»
«Aber wer sollte sie denn getötet haben?»
«Ich hätte da einen Namen», sagt Nelson.
«Und der wäre?»
«Luzifer.»
Ruth und Tatjana steigen einen Hang hinauf. Nach zwei fast durchgehend schönen Wochen ist es jetzt kalt, es geht ein schneidender Ostwind. Die Meteorologen warnen fröhlich vor möglichen Schneeschauern, und der Himmel ist
Weitere Kostenlose Bücher