Ghost Lover
einzuschlafen.
Marcus kam spätnachts in Maidenly Green an. Seine Überlegung, nach Wyndham Manor zu reiten, ließ er fallen, als er das Haus und seine Bewohner in tiefem Schlaf vorfand. Stattdessen wandte er sich nach Rose Cottage. Das kleine Anwesen hinter Wyndham Woods war verlassen. Nach dem Tode seiner deutschstämmigen Großmutter hatte man das Haus verschlossen. Es war davon auszugehen, dass dem immer noch so war.
Tatsächlich fand er alles wie erwartet vor. Er verschaffte sich Zutritt und ging ins Schlafgemach. Kurz entschlossen legte er den Brief seines Vaters ins Bibelloch und begab sich zur Ruhe. Er schlief bis weit in die Mittagsstunden hinein.
Als er sich ankleidete, vernahm er Geräusche von unten und dann Schritte.
Stirnrunzelnd packte Marcus Tagebuch und Schreibutensilien in seine Jacke und zog sie über.
Die Schritte hatten das Obergeschoss erreicht.
Marcus öffnete die Schlafzimmertür und sah sich Charles Torrington gegenüber. Sein feistes Gesicht war hochrot und seine kleinen Schweinsäuglein flackerten.
„Torrington!“ Marcus gab sich keine Mühe, seine Antipathie für den dicken Mann zu verbergen.
„Stapleton!“ Charles nickte ihm kurz zu. „Gratuliere zum Erbe.“
„Besten Dank.“ Er musterte den fettleibigen Mann kühl. „Erlaubt Ihr, ich möchte nach Hause gehen.“
Charles verharrte einen langen Moment reglos, dann ließ er Marcus hinaustreten.
Marcus ging an ihm vorbei und wurde noch in der Bewegung unvermittelt von etwas Schwerem gerammt. Im Fallen sah er Henri Marsden, den ehemaligen Privatsekretär seines Vaters. In der Hand hielt Henri einen Holzprügel. Der Mann zitterte.
Marcus versuchte sich zu fangen, doch Henris Schlag hatte ihn mit voller Wucht an Schulter und Kopf getroffen. Ein reißender Schmerz durchzuckte ihn und zwang ihn in die Knie. Blitze tanzten vor seinen Augen. Marcus verlor vollends das Gleichgewicht und fiel die Treppe hinunter. Noch bevor er unten angekommen war, wurde es Nacht um ihn.
Tosen und Brüllen jagten durch seinen Kopf. Ihm war übel und sein Körper krümmte sich unter Schmerzen.
Er verlor unzählige Male das Bewusstsein, und als er nach einer unbestimmten Zeit wieder zu sich kam und in der Lage war, seine Umgebung wahrzunehmen, musste er erkennen, dass er sich in einem kleinen Kellergemach ohne Türen und mit nur einem schmalen Fensterschacht befand.
Seine Kehle war ausgedörrt und sein Kopf schmerzte so sehr, dass er manchmal kaum sehen konnte. Seine linke Schulter war bewegungsunfähig und als er versuchte aufzustehen, musste er feststellen, dass er durch Schwäche und Verwundung nicht dazu in der Lage war.
Irgendwann hatte er genug Kraft gesammelt, um nach Hilfe zu rufen. Doch niemand kam. In glücklichen Momenten driftete sein Bewusstsein davon.
In seinen Träumen fand er sich in Wyndham Manor wieder. In seinen geliebten Rosengärten. Er konnte die weichen Blütenblätter unter seinen Fingern spüren, roch ihren süßen Duft und fühlte die warme Sonne auf seiner Haut. Einmal träumte er von Penelope. Sie saß auf der Marmorbank bei den Rosen. Sie trug ihr Lieblingskleid, jenes mit dem Springrock und aus dem blauen Taft, den er ihr einmal geschenkt hatte. Und sie las Homer. Als sie ihn entdeckte, lächelte sie traurig und streckte ihm die Hand entgegen. Er ging auf sie zu, doch mit einem Mal schien sie sich weiter von ihm zu entfernen, obwohl er sich alle Mühe gab, ihr entgegenzulaufen.
Aber immer wieder erwachte er aufs Neue in seinem winzigen Kerker. Er wusste nicht, wie lange er sich in dem Raum befand, doch er konnte allzu deutlich spüren, wie das Leben aus ihm wich.
Beseelt von dem einzigen Gedanken, nicht zu gehen, ohne die Geschehnisse mitzuteilen, raffte er sich auf und schrieb die Ereignisse jener Tage in sein Journal …
„Was ist heute Morgen mit dir los?“, fragte Ella, als Marcus zum zweiten Mal Zucker in den schon gesüßten Kaffee streute.
Marcus sah zerstreut auf.
„Dein Kaffee.“ Ella deutete auf seine Tasse. „Noch mehr Zucker und du hast Sirup. Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ich erinnere mich wieder“, äußerte er schlicht.
Ella musterte ihn fragend.
„Warum und wie ich gestorben bin.“
Ella hatte Tränen in den Augen, als Marcus mit seiner Erzählung endete.
Sie drückte seine Hände an ihre Brust.
„Oh Marcus“, schluchzte sie. „Es tut mir ja so leid.“
Emotionslos zuckte Marcus mit den Schultern. „Geschehen ist geschehen.“ Und er meinte es tatsächlich so. Wenn er
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