Ghost Street
sich von ihrem ersten Schrecken erholt, verstummte der Lärm und sie bekam wieder festen Boden unter den Füßen. Verstört stand sie auf.
»Was war das?«, rief sie. Die Ereignisse in der Ghost Street kamen ihr in den Sinn. »David? Bist du in der Nähe? Sag doch was, David! Willst du mir irgendetwas mitteilen?« Sie stand auf und ging mit ihrem Koffer zur Treppe.
Im Flur wies nichts auf die seltsame Erschütterung hin. Alle Bilder hingen noch an der Wand. Auch im Erdgeschoss war nichts passiert. Alles stand und lag noch so, wie sie es verlassen hatte, und ihr Kater hockte brummig in seinem Körbchen. Er war wohl ein bisschen beleidigt. Kein Wunder, sie war während der letzten Tage kaum zu Hause gewesen und die Geister hatten vielleicht auch ihn heimgesucht.
Von draußen drang ungeduldiges Hupen herein. Sie kümmerte sich nicht darum und öffnete neugierig die Kellertür. In dem Gewölbe war alles dunkel. Keine Stimme war zu hören.
»David?«, rief sie noch einmal. »David? Jack Crosby, mein Chef, lässt mich ein paar Tage in seinem Ferienhaus in Beaufort wohnen. Nur zur Sicherheit. Da draußen findet mich der Killer nicht.«
Wieder das ungeduldige Hupen.
»Ich komm ja schon.« Sie schloss die Kellertür und lief nach draußen, ihren Rollkoffer im Schlepptau. Ihr Chef hatte bereits den Kofferraum geöffnet und wartete. »Tut mir leid, Jack, ich hab den Koffer nicht zubekommen.«
Crosby nahm ihr das Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum. Als »Gentleman der alten Schule«, wie er sich selbst gerne bezeichnete, öffnete er ihr auch die Beifahrertür. »Seltsam, dass Frauen immer doppelt so lange wie wir Männer brauchen, um ein paar Sachen zusammenzupacken. Was haben Sie nur in dem Koffer drin?«
»Zwei Kostüme, mein Kosmetiktäschchen und all die anderen Hilfsmittel, die ich brauche, um mich in eine attraktiveStaatsanwältin zu verwandeln«, antwortete sie amüsiert. Sie schnallte sich an und lehnte ihren Kopf zurück.
»Das war knapp heute Morgen«, wechselte er das Thema, als er den Wagen auf die Schnellstraße nach Norden steuerte. »Ich hatte bereits den Gouverneur am Telefon und war darauf gefasst, Ihnen kündigen zu müssen, als die ersten Meldungen übers Internet und im Fernsehen kamen. So viel einhelliges Lob hat die Staatsanwaltschaft in Georgia noch nie bekommen.«
»Man tut, was man kann, Jack.«
»Wir hätten die Frau gar nicht anklagen dürfen. Und wenn, hätte ich Sie von dem Prozess fernhalten müssen. Tut mir leid, Alessa.« Er lächelte sie an. »Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie in meinem Ferienhaus verstecke? Es ist nichts Besonderes. Ein Unterschlupf, wenn mir der Alltag mal wieder auf den Kopf fällt.«
Mit Small Talk wie diesem vertrieben sie sich die Zeit. Sie erreichten den Stadtrand und fuhren über den schmalen Highway nach Nordosten. Vor einer einsam gelegenen Tankstelle kurz vor dem Highway 17 hielt Crosby an. »Ich verschwinde mal kurz auf der Toilette«, entschuldigte er sich.
Alessa nickte und stellte das Radio an. Langweilige Top-Forty-Musik mit den üblichen Witzchen, die ihr bei jedem Radiosender auf den Geist gingen. Aber sie vertrieben einem wenigstens die Zeit. Sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war todmüde.
Ihre Augen waren geschlossen, als sie den Schatten eines Mannes wahrnahm und Schritte im Kies neben dem Wagen zu hören waren. Sie öffnete die Augen und stellte das Radio ab.
Der Mann, der in ihren Wagen stieg, trug den weißenUmhang und die Kapuze des Ku-Klux-Klan. In seiner rechten Hand hielt er ein feuchtes Tuch, das er Alessa mit voller Kraft auf Mund und Nase drückte. Sie wehrte sich heftig mit Händen und Füßen, bekam irgendwie die Kapuze zu fassen und zog sie dem Mann vom Kopf.
Vor Entsetzen war sie zu keiner weiteren Bewegung mehr fähig. Das Letzte, was sie sah, bevor ihr endgültig schwarz vor Augen wurde, war das vertraute Gesicht ihres Chefs.
39
Heftiger Schmerz riss Alessa aus ihrer Bewusstlosigkeit. Als würde jemand unzählige Nägel in ihre Haut treiben, und so ähnlich war es auch. Der Klansmann hatte sie an Händen und Füßen gefesselt und umwickelte ihren Körper mit Stacheldraht. Auf diese unwürdige und schmerzhafte Weise war Bruce Gaddison vor vierzig Jahren gestorben, und so würde auch sie die Welt verlassen. Jack Crosby würde sie in den Fluss werfen und wie einen räudigen Hund verrecken lassen.
Sie wollte schreien, vor Schmerz und vor Wut, und brachte keinen einzigen Laut hervor. Crosby hatte
Weitere Kostenlose Bücher