Ghost Street
»wir sitzen in diesem Prozess über ein Opfer zu Gericht. Lydia Murrell wurde jahrelang von ihrem Mann geschlagen und misshandelt und war mehrmals so stark verletzt, dass sie ein Krankenhaus aufsuchen musste. Selbst wenn sie den Mord an ihrem gewalttätigen Mann akribisch geplant, wenn sie das Messer bereitgelegt und ihn mit Vorsatz getötet hätte, selbst dann müssten wir ihr mildernde Umstände zugestehen. Von Kriegsheimkehrern wissen wir, dass sich Stress, der sich während eines langen Einsatzes und unter ständiger Gefahr angestaut hat, noch viele Jahre später in einem Ausbruch von unkontrollierter Gewalt entladen kann. Mit einer Frau, die jahrelang von ihrem Mann gequält, gedemütigt und geschlagen wird, ist es nicht anders. Die Angeklagte ist der typische Fall einer Frau, die nach ihrer Leidenszeit, während der sie stets zu ihrem Mann hielt, zu allem bereit war.«
Er legte eine kurze Pause ein und beobachtete die Wirkung seiner Worte auf die Geschworenen. Vor allem zwei Frauen zeigten sich beeindruckt. Zufrieden fuhr er fort: »Lydia Murrell war zu allem bereit – und doch beging sie keinen Mord. Owen Murrell, ihr Ehemann, liegt auf der Intensivstation und wird bleibende Schäden von ihrem Messerstich davontragen, aber er ist nicht tot. Obwohl er die Angeklagte bis zum Äußersten gedemütigt und gereizt hatte und sie ein Messer in der Hand hielt, stürzte sie sich nicht in blinder Wut auf ihn, sondern stach lediglich einmal im Reflex und in einem Akt der Selbstverteidigung aufihn ein. In einem Akt der Selbstverteidigung!« Er betonte den Satz eindringlich. »Owen Murrell griff seine Frau nach ihrer Rückkehr in die gemeinsame Wohnung mit äußerster Brutalität an, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu verteidigen. Sonst wäre sie jetzt tot. Sie stach lediglich zu, um ihr eigenes Leben zu retten. Einen eindeutigeren Fall von Notwehr gibt es nicht, meine Damen und Herren, das wird auch die Staatsanwaltschaft zugeben müssen.«
Er deutete auf die Angeklagte. »Lydia Murrell ist nicht Täterin, sondern Opfer. Ich bitte Sie deshalb eindringlich, die Angeklagte freizusprechen.«
Nachdem er sich gesetzt hatte, stand Alessa auf. Ihr Blick streifte Lydia Murrell, die angespannt neben ihrem Verteidiger saß und wohl nicht glauben konnte, dass ausgerechnet die Frau, die so viel Verständnis für sie gezeigt und ihr sogar den Verteidiger besorgt hatte, sich für ihre Verurteilung einsetzte. Alessa konnte es ja selbst nicht glauben. Sie begrüßte den Richter und die Geschworenen und begann mit ihrem Plädoyer: »Ich bin Staatsanwältin. Als solche habe ich mich allein an den Fakten zu orientieren. Ich weiß, was man von mir erwartet: dass ich die Angeklagte als Täterin überführe, ihr nachweise, dass sie Selbstjustiz verüben und ihren Ehemann mit dem Tod bestrafen wollte.«
Sie atmete einmal tief durch, sah die hochgezogenen Brauen des Richters und spürte die Blicke der Angeklagten im Rücken. »Bis heute Morgen hatte ich ein Plädoyer einstudiert, in dem ich ihr versuchten Totschlag vorwerfen wollte, und obwohl es einige Argumente für eine solche Tat gibt, bestehen auch Zweifel. Nach den Indizien, die uns inzwischen vorliegen, eindeutige und berechtigte Zweifel.« Sie blieb vor den Geschworenen stehen und sammelte sich. Das Plädoyer fiel ihr nicht leicht, stets spürte sie den Blick der angeklagten Lydia Murrell im Rücken.
»Ich meine nicht den emotionalen Stress der Angeklagten, den der Verteidiger so wirksam in seinem Plädoyer darlegte. Ich meine Fakten, die wir bisher nicht genügend berücksichtigen konnten. Die Fotos vom Tatort und die Aussagen der Kollegen der Crime Scene Unit beweisen inzwischen eindeutig, dass Lydia Murrell tatsächlich Gemüse schnitt, bevor sie zustach, das Messer also nicht absichtlich bereitgelegt hatte. Und wir müssen die Glaubhaftigkeit des medizinischen Sachverständigen anerkennen, der bei der Untersuchung der frischen Verletzungen der Angeklagten zu dem Schluss kam, dass Owen Murrell sie vor der Tat mehrfach geschlagen hatte. Ein Vorsatz scheidet bei dieser Tat demnach aus.« Sie stützte sich auf die Balustrade und überlegte ihre abschließenden Worte.
»Ich habe Lydia Murrell mehrmals im Krankenhaus besucht, einen tätlichen Angriff ihres Mannes auf sie gesehen und erleben müssen, wie sie sich schützend vor ihn stellte. Und ich kam auch als Erste in die Wohnung der Murrells und sah ihren Mann schwer verletzt auf dem Boden liegen. Ich bin die
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