Ghostwalker 02 - Raven, M: Ghostwalker 02
fast nackt zu sehen, meinst du?“ Ihr Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.
„Lynn.“
Sie zog eine Schnute. „Oh, schon gut. Du bist so eine Spaßbremse.“
„Das kann vorkommen, wenn ich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt werde, nachdem ich die letzten Nächte schon in der Klinik verbracht habe.“
Die Tierpflegerin wurde ernst. „Ich soll dich holen, es wird angeblich gleich eine große Raubkatze von einem Trucker gebracht, der sie angefahren hat.“
Ryan hob eine Augenbraue. „Sprechen wir von einem Luchs oder Puma?“
„Nein, soweit ich das verstanden habe, soll es wohl ein Leopard oder etwas Ähnliches sein.“ Sie hob die Schultern. „Guck mich nicht so an, ich bin nur der Überbringer der Nachricht. Also schmeiß dich in deine Klamotten und komm mit, dann kannst du es mit eigenen Augen sehen. Ich fahre schon mal zurück.“
„Wehe, das ist nur ein Scherz.“ Damit drehte Ryan sich um und ging ins Schlafzimmer zurück.
Er schlüpfte in seine Jeans und zog einen Pullover an. Nach einem kurzen Besuch im Bad war er abfahrbereit. Er freute sich schon darauf, wieder etwas mehr Freizeit zu haben, wenn bald ein weiterer Tierarzt in der Klinik anfing, aber es war auch ein seltsames Gefühl, die Verantwortung teilen zu müssen. Hoffentlich verstanden sie sich wenigstens gut, sonst würde die Arbeit sehr unangenehm werden. Bisher hatte er den neuen Kandidaten nur einmal kurz gesehen und sich noch keine Meinung über ihn gebildet. Rasch zog Ryan seine Schuhe an, überprüfte, ob er sein Handy eingesteckt hatte, und nahm den Schlüssel vom Haken.
Lynn war schon nicht mehr zu sehen. Immer wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich doppelt so alt. Hatte er überhaupt jemals solche Energie besessen? Irgendwie konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Er liebte seine Arbeit im San Diego Wild Animal Park, der trotz diesem Namen am Rande der kleinen Stadt Escondido lag, aber sie fraß auch sein Leben auf. Wenn er abends nach Hause kam, war er meistens so kaputt, dass er sich nur noch Essen in der Mikrowelle erhitzte, etwas fernsah oder ein Buch las und dann todmüde ins Bett fiel. Er hatte nicht mal Zeit, sich ein Haustier anzuschaffen, obwohl er sich über etwas Gesellschaft im Haus freuen würde.
Der Jeep rollte vom Grundstück auf die Straße, und Ryan trat das Gaspedal durch. Um diese Uhrzeit war nur selten jemand unterwegs, deshalb hatte er freie Fahrt zum Park. Außerdem wurde er dank eines Abkommens mit dem hiesigen Sheriff nicht angehalten, wenn er in tierärztlicher Mission unterwegs war. Einer der Vorteile, wenn man in einer Kleinstadt wohnte. Auch Lynn schien die leeren Straßen ausgenutzt zu haben, als er wenige Minuten später auf der Zufahrtsstraße zum Park in die Einfahrt des Klinikgeländes einbog und neben ihrem Auto parkte, war sie schon im Gebäude verschwunden.
Ryan schwang sich aus dem Jeep und betrat die Tierklinik. Das Backsteingebäude war hell erleuchtet, und er hörte aufgeregtes Stimmengewirr. Das bedeutete wohl, dass tatsächlich jemand eine verletzte Raubkatze eingeliefert hatte. Neugier und Aufregung breiteten sich in Ryan aus. Er mochte viele Tierarten, aber Katzen waren seine Lieblinge. Sie waren irgendwie … geheimnisvoll, nie zu durchschauen. Obwohl er so viel über sie wusste, konnten sie ihn dennoch immer wieder überraschen. Und da lag diese Wildheit in ihren Augen, ganz egal, wie lange sie schon im Zoo lebten oder ob sie nie wirkliche Freiheit gekannt hatten.
Ryan eilte den langen Korridor entlang. Eine Mischung aus Spannung und dunkler Vorahnung jagte durch sein Blut, ließ sein Herz schneller schlagen. Wie oft hatte er dieses Gefühl schon verspürt, wenn er zu einem Patienten gerufen worden war? Unzählige Male, und trotzdem war es immer wieder eine Überraschung. Nach zehn Jahren als Tierarzt sollte er sich allmählich daran gewöhnt haben und völlig abgebrüht sein. Doch das war er nicht. Auch wenn er es nach außen nicht zeigte, hatte er jedes Mal Angst, dass etwas schiefging und er ein Tier nicht retten konnte.
Als er den Behandlungsraum betrat, waren neben Lynn noch mehrere andere Pfleger und sogar der Nachtwächter des Parks anwesend. Neben ihm stand ein Mann, den er nicht kannte, dessen Hände und Kleidung Blutspuren aufwiesen. Er schien sich unbehaglich zu fühlen, während er auf etwas hinunterblickte.
„Wo ist der Notfall?“ Die anderen zogen sich vom Tisch zurück, auf dem ein undefinierbares Bündel lag. Vor allem bewegte es sich
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