Gibraltar
gegenseitige Versicherungen abzugeben: über das Andauern des Gefühls, des guten Willens, die Ausschließlichkeit der Liebe. Der Idee nach befürwortete sie das alles. Doch etwas daran – der Kitsch der Tiefe – stieß sie ab. Der Gedanke, dass irgendwer oder auch irgendetwas, und sei es nur ein tiefes Gefühl, sie okkupierte, empfand sie eher als Anmaßung denn als Erlösung.
Der dritte Mann, mit dem sie so etwas wie eine »Beziehung« hatte, war ein übergewichtiger, vierschrötiger Klebstoffmagnat, deutlich älter als sie. Mit ihm lebte sie fünf Jahre und hinterging ihn, wann immer sie Gelegenheit dazu hatte. Keitel, wie der Mann hieß, hatte viele Schwächen; die größte davon war, Angst vor attraktiven und selbstsicheren Frauen zu haben. Er überschüttete sie mit Geschenken und Geld, weil er ahnte, dass nur derartige Verbindlichkeiten ihn ermächtigten, auch Forderungen an sie durchzusetzen. Wenn sie ihn manuell befriedigte, schloss sie fest die Augen und dachte an die Heuballen, in denen sie als Kind nie gespielt hatte. Sie tat, wozu er sie dirigierte, und wusste, dass sie dafür jeden Preis verlangen konnte.
Keitel war zugleich linkisch und plump. Dass er ein ganzes Jahr brauchte, um hinter ihre Affären zu kommen, ließ ihre Meinung von ihm noch weiter sinken. Jedes Mal, wenn sie von einem anderen Mann kam, machte er ihr eine Eifersuchtsszene. Er konnte dann gallig und ausfallend werden, und einige Male fürchtete sie, er würde die Beherrschung verlieren und sie schlagen.
Je rücksichtsloser sie sich von ihm entfernte, desto größer und exklusiver wurden seine Überraschungen. Sie besuchten den Opernball in Wien, die Mailänder Scala und die Wagner-Festspiele. Dass seine Geschenke ihr nicht genügten, war keine Pose. Er allerdings sah in ihrem Desinteresse lediglich einen Anreiz, sich in Fantasie und Großzügigkeit noch zu übertreffen.
Das Einzige, was sie ihm hoch anrechnete, war, dass er als Erster von Scheidung sprach. Gleichwohl konnte sie nicht zulassen, dass er vor dem Scheidungsrichter ihre Untreue geltend machte. Sie nahm sich einen Anwalt und bezichtigte ihn, ein Verhältnis mit der Haushälterin gehabt zu haben. Der Vorwurf war absurd, zumal nicht nur Keitel, sondern auch die Haushälterin ihn energisch abstritten. Helene stellte die Sache so hin, als habe Keitel die Untergebene unter Einsatz perfider psychischer Gewalt, unter der übrigens auch sie als Ehefrau gelitten habe, zur Falschaussage gezwungen. Offenbar machte Helene dabei einen glaubwürdigen Eindruck. Ihrem Antrag auf monatlichen Unterhalt wurde vollumfänglich stattgegeben.
Sie war nun fast dreißig Jahre alt, und wenn sie in den Spiegel sah, dann erschien darin eine nach gängigen Vorstellungen attraktive Frau. Gleichwohl war sie sich nie wie eine vorgekommen. Dass ihr nackter Körper viele Männer um ihren klaren Verstand bringen konnte, war ihr zwar aus Erfahrung bekannt, aber im Grunde unverständlich. Auch sie selbst war sich unverständlich. Was sie bisher getan hatte, konnte sie umstandslos als unfreundlich und berechnend einsehen. Sie hatte Männer benutzt und ausgebeutet und damit nicht nur ihre Gefühle verletzt, sondern, wie in Keitels Fall, auch ihre Würde zerstört. Sie sagte sich, dass sie aufgrund dieser Schuld eigentlich nicht länger zu ungebrochener Selbstachtung berechtigt sei. Doch sie fühlte sich nicht schuldig. Die Abfälligkeit und Herzlosigkeit, mit der sie Keitel jede Zuneigung verweigert hatte, empfand sie nicht nur als ihr gutes Recht, sondern geradezu als Schuldigkeit sich selbst gegenüber.
2
In der Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Es war nicht der Vorfall im Museum, der sie beschäftigte, sondern die bürokratischen Erfordernisse der nächsten Tage. Das Haus zum Beispiel lief auf Johanns Namen. Die Energieversorgung, Versicherungen, seine sämtlichen juristischen Kompetenzen in Bezug auf ihr gemeinsames Leben, all das musste auf sie überschrieben werden. Der Notar würde am Nachmittag das Testament überbringen; sie dachte an die Bank, an die Stiftung, das Museum. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere, ihr Rücken schmerzte; sie würde bald aufstehen müssen. Um sich abzulenken, dachte sie an ein kleineres Problem. Der alte Mercedes war in Spanien geblieben, sie musste die Verschrottungsrechnung begleichen, bevor der Wagen abgemeldet werden konnte. Sie würde das nicht selbst tun, sie konnte Ulla beauftragen, besser noch den Fahrer Emmerlein. Aber sie musste es
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