Gibraltar
Bernhard es nun offensichtlich getan hatte.
»Im Moment«, sagte Feldberg, »können wir nur zusehen, wie die Zeit abläuft. Wir haben angefangen, die Anleihen zurückzukaufen, aber der Kurs hat sich verdreifacht und steigt weiter.«
»Wie viel haben wir verloren?« Sie zog ihren Mantel enger um sich, sie fror.
»Im Moment schwer zu sagen. Es geht auf die zweihundert zu. Ich persönlich glaube, eher mehr.« Feldberg sagte das mit fester, unbeeindruckter Stimme. Sie führte sich die Zahl vor Augen: 200 Millionen. Die Stiftung hatte für das zweite und dritte Quartal einen Kapitalbedarf von 425.000 Euro. Sie musste Löhne zahlen. Beziehungsweise Feldberg. Sie spürte brennend Säure im Magen und im Rachen. Ein Grauhörnchen kletterte eine Linde hinauf bis zu einem dicken Ast, lief ihn entlang und sprang auf den des Nachbarbaums. Dann war es verschwunden.
»Was sagt Bernhard?«, fragte sie.
Feldberg ließ den Rauch seiner Selbstgedrehten durch die Nasenlöcher entströmen. »Er sagt gar nichts. Bernhard ist nicht aufzufinden.«
»Was soll das heißen? Er wird zu Hause sein. Schicken Sie jemanden hin.«
»Seine Frau sagt, sie wisse nicht, wo er sei.«
»Sie ist seine Frau. Sie wird lügen.«
Sie goss Tee auf, als Thomas die Treppe hinunterstieg. Sein Hund folgte ihm. Als er sie sah, wedelte er mit dem Schwanz, umrundete den Tisch und legte sich dann in die Ecke vor das Konsoltischchen, wo eine Decke für ihn ausgebreitet lag.
»Du bist schon wach«, sagte sie zu ihrem Sohn.
»Ich hab dich gehört. Konnte nicht mehr schlafen.« Er sah sich um und schaltete den Wasserkocher erneut ein. Während das Wasser kochte, öffnete und schloss er Schranktüren hinter ihrem Rücken. Sie hätte sich umdrehen und den Kaffeefilter, den er suchte, selbst aus dem Fach unter der Besteckschublade nehmen können. Etwas hinderte sie. Thomas suchte, bis er den Filter gefunden hatte. Er fragte nicht. So war es immer gewesen.
An Johanns Bett, dachte sie, hatte sie nichts empfunden angesichts der Apparate und Schläuche. Keine Kälte, keinen Hass, keine Sorge. Sie fragte sich, was das sollte: nichts zu empfinden. Ob es richtig war. Allerdings: richtig, gemessen woran? Wem half es, wer prüfte es nach? Sie bewegte diese Sätze in ihrem Kopf, während Thomas eine weitere dampfende Tasse vor sie hinstellte, dann um den Tisch herumging und sich ihr gegenüber niedersetzte, wie bei einer Besprechung.
»Man könnte die Heizung langsam ausschalten«, sagte sie. »Meinst du nicht auch?«
Er sah sie lange an. Dann hob er vorsichtig seine Tasse, verzog das Gesicht und setzte sie unverrichteter Dinge wieder ab. Helene stellte fest, dass Thomas’ Anwesenheit sie verunsicherte. Sie wünschte sich, dass Ulla bald kommen würde. Sie sagte: »Es ist, als würde er jetzt aufstehen und herunterkommen, und alles wäre wie früher.«
»Ah ja? Ist es so?« Helene glaubte, in seiner Stimme eine latente Gereiztheit ausmachen zu können. Seine Frage irritierte sie. Er hätte zu ihrer Bemerkung schweigen sollen, so hatte sie es erwartet. Nun ertappte sie sich, wie sie sie selbst in Zweifel zog. Sie hatte seit Jahren nicht mehr das Gefühl, Johanns Anwesenheit sei notwendig, um irgendetwas zu vervollständigen. In keinerlei Hinsicht.
»Natürlich ist es so. Wir haben unter einem Dach gelebt. Gerade habe ich noch über diese ganzen Möbel nachgedacht. Mir haben sie noch nie besonders gut gefallen. Aber irgendwie ist doch ein Teil eures Vaters darin.«
»Und ich habe immer gedacht, er müsste eher in unserer Erinnerung sein. In unseren Herzen.«
»Ja. So meinte ich es auch.«
Thomas nickte und glaubte ihr nicht. Er hatte sich schon immer ihren Worten verschlossen, sie wusste nicht, aus welchem Grund.
»Die Möbel standen schon immer hier«, sagte er. »Sie sind voller Geschichte. Aber die Geschichten haben euch nie interessiert. So kommt es mir vor.«
»Ich weiß nicht, ob du das beurteilen kannst, Thomas. Auch wenn du Therapeut bist.«
»Ich therapiere nicht mehr. Schon eine ganze Weile. Ich berate. Wie du weißt.« Sein Blick ging im Raum hin und her, als wartete er auf das Eintreffen irgendeines Ereignisses.
»Ja. Das hat mit dieser Sudek-Tochter zu tun, nicht wahr? Die sich umbringen wollte?« Thomas antwortete nicht. »Du hast sie nach Spanien mitgenommen.«
»Ich kann über meine Klienten nicht sprechen«, sagte Thomas und wich ihrem Blick aus.
»Ja, entschuldige«, sagte Helene geduldig. »Ich hoffe, dass sie die Nummernschilder bald
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