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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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schicken.«
    »Was?«, fragte Thomas. Seine Gereiztheit war nun unüberhörbar.
    »Die Nummernschilder. Des Autos.« Sie konnte beobachten, wie er ihren Satz untersuchte, als befürchtete er, eine Bombe sei darin versteckt. Als er keine fand, sagte er: »Tut mir leid um den Wagen. Vater hat immer wieder daran herumgebastelt, oder? Ich hatte das Gefühl, dass er ihn sehr liebt.«
    Ihre Unsicherheit, dachte sie, rührte womöglich von der Frage, wie sie sich unter dem Eindruck von Johanns Tod zu verhalten habe. Sie wollte sich nicht verdächtig machen; nicht nur Thomas, niemandem gegenüber. Dass sie nichts fühlte, erschien ihr wie ein schrecklicher Makel. Sie hatte jahrzehntelang mit Johann gelebt. Sehr lange Zeit hatte sie gehofft, etwas von ihm zu bekommen, das er ihr hartnäckig, willentlich und wahrscheinlich aus Bosheit vorenthalten hatte. Obwohl sie es verstand, hatte ein Teil von ihr ihn dafür gehasst. Ein immer größerer Teil. Sie wusste, dass dieser Teil angesichts seines Todes nicht öffentlich vertretbar war.
    »Er hat nicht daran herumgebastelt«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.«
    »Er hat das mal gesagt. Dass er das als seinen Ausgleich sah. Das Schrauben und die Kunst. Kann sein, ich hab’s aus einem Interview.«
    Sie fixierte die Tasse und fragte sich, warum Thomas ihr Kaffee hingestellt hatte, wo sie doch augenscheinlich Tee trank. »Man soll nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht«, sagte sie.
    »Heißt das, er hat gelogen? Oder was heißt das?«
    »Emmerlein hat gelegentlich ein Teil ausgewechselt. Und den Wagen in die Waschanlage gefahren.«
    »Also hat er in dem Interview nur eine Geschichte erzählt? Die Legende vom schraubenden Banker? Willst du das damit sagen?«
    »Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr, Thomas.«
    Thomas stand auf. Offensichtlich wusste er nicht, warum er das tat. Aus irgendeinem Grund war er aufgeregt. Sie hätte gern gewusst, weswegen er so ärgerlich auf sie war. Sie hätte ihn fragen können.
    »Wie kannst du sagen, dass es keine Rolle mehr spielt? Und   ob   das eine Rolle spielt, es gibt Hunderte solcher Geschichten. Wie soll man da durchblicken?«
    Ihr Tee, anders als der Kaffee, den sie ohnehin nicht trinken würde, war inzwischen abgekühlt. Ein Grund, weswegen sie so selten Kontakt zu ihrem Sohn suchte, war ihr Unverständnis über seine chronische Aufgeregtheit. »Was denn für Geschichten, Thomas?«
    »Okay. Zwei Fragen. Erstens: Warum willst du nicht mit dem Reporter reden?«
    »Ich weiß nicht, von wem du sprichst.«
    »Dieser Gudvang, der dich gestern angesprochen hat. Während der Trauerfeier. Den die Sicherheitsleute rausgeschmissen haben.«
    »Ach, den meinst du. Und was ist deine zweite Frage?«
    »Kannst du vielleicht erst mal die erste beantworten?«
    »Thomas, mir gefällt dein Ton nicht.«
    Er setzte sich wieder hin und atmete hörbar aus. Sie wusste, dass er damit einen Vorwurf meinte; sie verstand nur nicht, welchen. Das Schweigen zwischen ihnen wurde unangenehm. Sie dachte an die Empfänge, die sie in diesem Haus gegeben hatte. Das Esszimmer nebenan war jede Woche erfüllt gewesen von Stimmen und Gelächter. In diesen Räumen – zwischen Küche und Esszimmer, auf der Veranda, im Korridor und manchmal draußen vor der Eingangstür – waren wegweisende Dinge besprochen worden. Ein Teil der Geschichte der Bank war hier entstanden. Ein Teil der Geschichte, die auch ihre war. Thomas war da schon lange fort gewesen.
    »Ich habe über Johanns Sachen nachgedacht, Thomas. Ich möchte sie jetzt schnell loswerden. Als Teil meiner Trauerarbeit.«
    »Als Teil deiner … Gut. In Ordnung. Prima.«
    »Es gibt in seinem Arbeitszimmer einige Sachen, bei denen ich an dich gedacht habe. Da sind zum Beispiel die alten Füllhalter, die er gesammelt hat. Ein paar mechanische Uhren, Schreibmappen, Tintenfässer, diese ganzen Sachen. Die Manschettenknöpfe.«
    Er runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf, als begriffe er den Sinn ihrer Worte nicht. »Wir waren gerade bei dem Reporter. Ich hatte dich was gefragt.«
    »Auf der Trauerfeier und im Museum waren keine Pressevertreter zugelassen.«
    »Und weiter?«
    »Was meinst du mit ›weiter‹?«
    Während der Trauerrede hatte sie durch das Panoramafenster der Kapelle, hinter Sarg und Rednerpult, die Totengräber beobachtet. Sie standen bei dem kleinen Pritschenwagen, mit dem der Sarg und die Gebinde später zur Grabstelle transportiert werden würden. Einer von ihnen putzte die

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