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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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veranlassen. Sie hielt sich an diesem Gedanken fest wie an einem Geländer, das sie in den Tag geleitete.
    Bald war er angebrochen, ohne dass sie ihn kommen gesehen hätte. Die Kiefern vor dem Fenster waren knorrig und kahl vor grauem Grund. Sie war nie schlaflos gewesen. Vorsichtig, mit geradem Rücken, richtete sie sich auf und setzte sich auf das Taburett vor der Kommode. In der Fuge des Spiegels steckte ein Zeitungsausschnitt, den sie selbst dort platziert hatte.
    MARIE-KOPPEN-PREIS VERLIEHEN
    Helene Alberts, namensgebende Vizevorsitzende und Kuratoriumsmitglied der Helene-Alberts-Stiftung, erhielt am 30. Juni 2007 den Marie-Koppen-Preis. Mit der Auszeichnung würdigte der Beiersdorf Hilfsfonds e.V. ihr großes Engagement für überschuldete Familien, ihre Initiativen zur Erwachsenenbildung sowie die Förderung ehrenamtlicher Lesepatenschaften.
    Der Preis wurde im Rahmen einer Gala-Benefizveranstaltung des Beiersdorf Hilfsfonds e.V. verliehen. Die Laudatio hielt der österreichische Privatbankier a.D. Dr. Josef Schallhammer senior. Helene Alberts sagte anlässlich der Preisverleihung in ihrer Dankesrede: »Wer nur seinen Egoismus auslebt, macht weder sich noch andere glücklich. Ohne Vertrauen kann unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Vertrauen entsteht durch Achtung vor jedem Einzelnen.«
    Sie hatte den Artikel oft gelesen, während sie hier saß und ihre Haare bürstete oder sich abschminkte. Jetzt hatte sie nur den letzten Satz überflogen. Sie stand auf.
    Im Esszimmer fiel graues Licht über Parkett und Möbel: den Dresdner Fassadenschrank, die bombierten Eckvitrinen, den großen Esstisch mit dem umlaufenden Bendelwerk. All diese Antiquitäten, die Johann gekauft hatte, waren nun ihr Besitz. Es war still im Haus, nur die Heizanlage im Keller schaltete sich eben ein. Auch die Heizanlage war jetzt ihr Besitz.
    Ulla kam nicht vor sieben. Helene setzte selbst Teewasser auf und steckte eine Zigarette auf ihre Spitze. Aus Gewohnheit kippte sie ein Fenster und blies den Rauch im Stehen zum Spalt hinaus. Dann fiel ihr auf, dass das nicht länger nötig war, und sie setzte sich mit dem Aschenbecher an den Tisch.
    Am anderen Ende lag ein großer Stapel Kondolenzkarten, die ihr gestern überreicht worden waren. Sie spürte keinen Impuls, sie zu lesen. Was sie stattdessen spürte, wusste sie nicht. Sie dachte an den Moment vor knapp zwei Wochen, als sie den Anruf von Feldberg erhalten hatte. »Der Komplementär hatte einen Zusammenbruch«, wie er sich ausgedrückt hatte. Der liebe, korrekte, immer förmliche Feldberg. Kein Mensch hatte Johann je den Komplementär genannt. Es hatte mit Feldbergs abständiger Ausdrucksweise zu tun gehabt, dass die Nachricht sie weder schockiert noch auch nur überrascht hatte.
    Feldberg hatte sie vor dem Eingang der Klinik empfangen. Sie hatte ihn selten besorgt erlebt; jetzt war er es. Die Chefärztin, die sie über die wesentlichen Gefahren von Johanns Zustand informierte, sprach ruhig und professionell; sie sagte, die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn sei durch den Schlaganfall stark beeinträchtigt gewesen, niemand könne genau sagen, wie lange. Wann damit zu rechnen sei, dass er das Bewusstsein wiedererlangte, sei nicht zu sagen. Oder ob überhaupt. Jeglicher Gedanke an das Geschäft, an die Schwierigkeiten, in denen die Bank steckte, verboten sich für den Augenblick. Feldberg war sein Mitleid anzusehen; auf der Stirn, genau zwischen den Augen, hatte sich eine tiefe Falte eingegraben. Sie sagte sich, dass Johann nichts spürte, dass er schlief, dass für ihn alles friedlich war. Der Sturm würde nur über sie hereinbrechen. Die Rechnung für das Chaos, das er hinterließ, würden sie zu bezahlen haben.
    Nach zwei Stunden, in denen sie schweigend an seinem Bett gesessen hatte und sich unter ihrem Kittel, der Haube und hinter dem Mundschutz immer mehr wie jemand vorkam, der sich versteckte, trat sie mit Feldberg hinaus in den frühen Abend. Sie fühlte sich betäubt von den regelmäßigen Geräuschen des   EKG   und des Beatmungsgeräts. Dann fiel ihr ein, dass sie Stefanie anrufen sollte, um sie über die Vorkommnisse zu informieren. Thomas war nicht zu erreichen.
    In den zwei Stunden waren auf Feldbergs Mobiltelefon elf Anrufe eingegangen, die meisten aus Frankfurt und dem Stammsitz. Noch begriff niemand, was geschehen war, auch wenn es, dachte sie, nicht schwierig zu begreifen war. Sie war immer dafür gewesen, dass die Bank ein größeres Risiko einging, wenn auch nicht so, wie

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