Gibraltar
Milbrandt in Ihre Kasse gerissen hat, die Branche ganz schön aufschrecken wird. Diese Leute hier«, er sah sich demonstrativ in dem großen Foyer um, »das sind ja sicher alles Geschäftspartner. Wissen die schon, dass Sie pleite sind?«
Sie antwortete nicht. Gudvang pfiff leise durch die Zähne. »Ich mein ja nur. Wenn das rauskommt. Wie man so hört, war die Aufsicht schon ein paarmal bei Ihnen.«
Helene hatte es in ihrem ganzen Leben als eines ihrer größten Talente betrachtet, sich weder Erregung noch Erschütterung anmerken zu lassen. So auch jetzt. »Wenn Sie unwahre Behauptungen verbreiten, werden Sie sich damit letztlich nur selbst diskreditieren.«
»Kann schon sein. Deswegen schreibe ich auch lieber die Wahrheit. Vielleicht wollen Sie mir dabei helfen?« Er trat einen Schritt näher. »Ich weiß, dass so was nur passieren kann, wenn die internen Kontrollen versagen. Die Frage ist nur, ob aus Schlamperei oder vorsätzlich? Ich hätte gern Ihren Mann dazu befragt. Milbrandt sitzt in Haft. Beide fallen also weg. Bleiben Sie übrig.«
Sie hätte den Kerl fragen können, woher er all diese Informationen nahm, doch damit hätte sie ihnen unweigerlich Gültigkeit verliehen. »Erstens weiß ich nicht, wovon Sie sprechen, und zweitens trage ich keinerlei Verantwortung innerhalb der Bank. Wenn Sie also jetzt …«
Gudvang hielt ihrem Blick stand. »Sie sollten nur darüber nachdenken, wen Sie ab jetzt zum Freund haben wollen.«
Sie sah sich in der Eingangshalle des Museums um. In einer Gruppe stand Holt mit einigen anderen Frankfurter Mitarbeitern; sie sah Feldberg und Hafer-Lorisch und die Mitarbeiter Wenz und Bruckmann und Staffelt aus den anderen Filialen, die Johann sehr nahegestanden hatten. Jeder, von dem dieser Gudvang etwas wissen wollte, befand sich hier im Raum. Gudvang hätte sie erkennen müssen; alle Fotos waren auf der Internetseite der Bank zu finden. Entweder war er ein Spinner, der etwas ganz anderes wollte als das, was er vorgab, oder er wollte – aus welchem Grund auch immer – ausschließlich etwas von ihr. Beides bot keinen hinreichenden Grund, mit ihm zu sprechen.
»So wie ich das sehe«, sagte Thomas jetzt, auf seinen Tee pustend, »will er etwas über Bernhard wissen. Wenn die Bank nichts zu verheimlichen hat, gibt es keinen Grund, nicht mit ihm zu sprechen. So sehe ich das.«
»Hast du etwa mit ihm geredet, Thomas?«
Das war die Frage, dachte Helene, auf die es ankam; nicht darauf, was Gudvang herausfand oder nicht herausfand. Wenn Thomas sich mit ihm unterhalten hatte, dann rührte das an etwas. An etwas sehr Altes.
3
In der Hoffnung, ihr Studium doch noch fortzusetzen, war sie nach Berlin gegangen. Tagsüber setzte sie sich in soziologische Vorlesungen der FU und folgte politisierten Debatten. Doch sie stellte fest, dass sie in diese Welt ebenso wenig gehörte wie in Keitels Klebstoff-Welt, in der man seinen vulgären Habitus mit Reichtum und Hochkultur zu bemänteln versuchte. Schätzen gelernt hatte sie einzig jene Sphäre, zu der Keitel ihr einen Zugang eröffnet hatte, wenngleich er selbst niemals zu ihr gehört hatte und niemals gehören würde: die aristokratische Welt jener Menschen, die einfach deshalb reich waren, weil sie alles andere als unzivilisiert empfanden. Diesen Menschen war ihr Beruf keine widerwärtige Lohnarbeit und schon gar nicht Entfremdung, sondern eine Berufung in allen Belangen. Das Eingehen und Pflegen von Kontakten in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft war für sie nicht, wie bei Keitel, simple Bestätigung ihres gesellschaftlichen Status, sondern das Betriebsgeheimnis ihres unternehmerischen Erfolgs. Alles, was man unter diesen Menschen sagte, war mit mindestens einem enigmatischen Doppelsinn unterlegt, und es war wie eine geheime Losung, ihn zu erkennen – und darin erkannt zu werden, dass man ihn erkennt. Dies war eine große Aufgabe, und Helene machte sie sich zueigen.
In ihrer Zeit mit Keitel hatte sie sich darin geübt, auf Stehempfängen, Abendessen oder in der Pause einer Opernvorstellung mit Geschäftsfreunden ins Gespräch zu kommen und sich dabei an das ungeschriebene Gesetz zu halten: ein unverfängliches, aber dennoch gehaltvolles Geplauder anzustoßen; ganz zufällig und beiläufig Stimmungen einzufangen über den Zustand der Geschäfte, über Absichten, Pläne und Befürchtungen. Schon eine flüchtige Bemerkung über den Wein konnte aufschlussreich sein, vorausgesetzt, man wusste Interessantes über die Weingüter zu
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