Gibraltar
Scheibe mit einer Sprühpistole und Küchenkrepp. Die Männer schwatzten und rauchten. Die profane Szene lenkte sie von dem Sermon des Trauerredners ab, der eine fiktionale Ansprache über Johanns großen gesellschaftlichen Auftrag hielt, seine Passion für unternehmerische Fairness und so weiter. Ihr Blick schweifte über die zahllosen Trauergäste: Unternehmer, Stiftungsverwalter, Kulturdezernenten. Sie alle waren Johanns wegen gekommen. Sie war unfreiwillig ergriffen gewesen von der Feierlichkeit, die die Kapelle erfüllte.
So hatte sie den Blick wieder nach draußen gewendet. Da hatte sie den Mann bei den Totengräbern entdeckt. Er trug einen schlecht sitzenden Anzug und rauchte. Wie er mit den Arbeitern sprach, mit leicht schief gelegtem Kopf, verriet professionelle Indiskretion. Sie erkannte sofort, dass er Journalist war.
»Nur, es geht nicht darum, ob er hätte da sein dürfen oder nicht«, insistierte Thomas. »Mir geht es um das, was er herausfinden will. Und was er zu sagen hat.«
Aus diesem Grund – weil sie gefürchtet hatte, dass er ihr diese Fragen stellen würde – hatte sie sich innerlich gewappnet, als Thomas die Treppe hinuntergekommen war. Jetzt wünschte sie sich noch sehnlicher, dass Ulla dazukäme, womöglich auch Stefanie. Sie überlegte, ob sie sie wecken könne. All die Jahre war Thomas nicht da gewesen; warum sollte sie sich jetzt vor ihm rechtfertigen?
Das Museum, in dem sie nach der Beerdigung die Trauergäste empfangen hatten, verband Johann, Feldberg und sie in besonderer Weise. Feldberg hatte es Johann bei ihrer ersten Begegnung vorgeschlagen, die wiederum sie ermöglicht hatte. Vielleicht hatte diese Begegnung den Grundstein zu allem anderen gelegt. Das Gebäude war eine ehemalige Akkumulatorenfabrik unmittelbar am Teltowkanal in Berlin-Steglitz, mit großem, zum Wasser hin abschüssigem Gelände, das Johann in einen Skulpturenpark hatte umgestalten lassen. Das Besondere an dem Gebäude war, dass es von 1932 bis 1933 Sitz des Bauhauses gewesen war, bevor die Nazis es auflösten. Johann verband mit dem Gebäude eine sentimentale Reminiszenz, die sie nicht teilte. Als Museum war die Fabrik ungeeignet und hatte nur unter erheblichen finanziellen Aufwendungen umfunktioniert werden können.
Natürlich wirkte die Geste, dort das letzte Mahl abzuhalten, nach außen wie eine Verbeugung vor Johanns Leidenschaft. Für Helene waren aber vielmehr die unmittelbare Nähe zum Friedhof an der Bergstraße sowie die Größe der Räumlichkeiten, die mühelos die gesamte Trauergesellschaft aufnehmen konnte, ausschlaggebend.
Unter den mehr als 350 Trauergästen waren keine Journalisten. Helene hatte das Sicherheitspersonal instruiert, die Einladungen der Gäste zu kontrollieren. Allerdings hatte diese Maßnahme Irritationen hervorgerufen, da man sie einer solchen Zeremonie für unangemessen erachtete. Obwohl sie darauf bestanden hatte, die Kontrollen beizubehalten, ging sie davon aus, dass die Sicherheitsleute ihre Vorgaben nicht sorgfältig genug umsetzten. In dem Mann am Büfett erkannte sie jenen wieder, der ihr bereits während der Trauerrede aufgefallen war. Sie ging zu ihm und sagte: »Ich glaube, Sie haben keine Einladung zu dieser Veranstaltung.«
»Stimmt«, sagte der Mann und schob sich eine Minibulette in den Mund. »Ich bin Kunstliebhaber.«
»Wie Sie sicher bemerkt haben, ist heute geschlossene Gesellschaft.«
Er sah sich wie erstaunt um. »Wirklich?«
»Darf ich Sie also bitten, zu gehen? Das Museum ist ab Dienstag wieder regulär geöffnet.«
»Na ja. Wer weiß, wie lange noch.«
Sie hatte gestutzt und kurz den Atem angehalten, um eine unangenehme Empfindung zu verhindern. Eine Empfindung, die sie einige Male in ihrem Leben gehabt hatte, die sie aber schon lange nicht mehr für angemessen hielt. Die Empfindung, entdeckt zu sein. »Wie war das?«
»Bei all den Schulden, die Ihre Bank jetzt am Hals hat. Ich meine, würde mich nicht wundern, wenn …«
»Wer sind Sie?«
»Gudvang. Angenehm. Ich schreibe über Sie.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dazu meine Zustimmung gegeben zu haben.«
»Brauchen Sie auch nicht. Ist ja ein freies Land. Ich kann schreiben, über wen ich will.«
»Und für wen schreiben Sie?«
»Das werden Sie dann schon sehen.«
Ein seriöser Journalist hätte ihr den Namen einer Zeitung genannt. Sie wies mit einer dezenten Bewegung zur Tür. »Leider müssen Sie jetzt trotzdem gehen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass das Riesenloch, das dieser
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