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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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sagen, über ihre Rebsorten und Cuvées, das Anbaugebiet sowie die kulturellen Besonderheiten der Lombardei. Anders als bei Gesprächen über die historische Benachteiligung der Frau oder den imperialistischen Kurs der westlichen Allianz stellte sich ihr dies als ein Wissen dar, das erstens auf höchst komfortable Weise zu erwerben war und das zweitens zu beobachtbaren Resultaten führte. Ihr Studium war weniger eine   éducation sentimentale   denn eine   grand tour .
    In dieser Gesellschaft fühlte sie sich, als erwache sie aus einem Tiefschlaf; als läge genau hier ihre Bestimmung. Die Herausforderung, sich jederzeit zu verhalten, als stünde sie unter Beobachtung, erregte sie. Sich unter keinen Umständen zu verraten, jedes ihrer Worte genauestens abzuwägen, kam ihr nicht vor wie das Mittel zu einem später zu erreichenden, höheren Zweck, sondern wie der Zweck selbst.
    Dass sie von dem Empfang zu Ehren Gustav Krupp von Bohlen und Halbachs 100. Geburtstag in der Villa Hügel erfuhr, verdankte sie Bekannten aus ihrer Zeit mit Keitel; durch sie kam sie auch zu einer Einladung. Sie reiste mit dem Zug nach Essen und setzte sich zum Ziel, den Rückweg in einer komfortablen Limousine anzutreten.
    Dass sie sich Johann gegenüber als warmherziger und prinzipientreuer Mensch präsentierte, lag einerseits in der Natur dieses Ziels. Andererseits hing es durchaus mit seiner Persönlichkeit zusammen. Er war ein ungleich empfindsamerer Mann als Keitel. Er hatte einen sensiblen Blick dafür, woher ein Mensch kam und was ihm wichtig war. Keine Bemerkung war ihm nebensächlich. Wenn sie nicht den richtigen Ton traf oder seine Meinung nicht ausreichend wertschätzte, zog er sich zurück. Damit verriet er ihr noch keine Schwäche. Er zog lediglich Nähe aus ihrem Miteinander ab, wie man Kapital aus einem fallenden Fonds abzog, und blieb geschäftsmäßig freundlich, bis sie wieder die richtigen Beträge zu investieren bereit war: Um ihn zu gewinnen, musste sie sich ihm öffnen. Vor Jahren hatte diese Konstellation sie bereits für Urs Häberlin eingenommen. Auch Johann war ein lebendiger Mensch mit vielfältigen Interessen, unterhaltsam und maßvoll; er verstand es, jeden Menschen anzusprechen wie einen vertrauten Freund. Er war liebenswürdig und direkt, ohne jemals jovial zu werden. Dass Helene ihre eigene Liebenswürdigkeit an ihm erproben konnte, machte das Geschenk noch wertvoller. Sie stellte fest, dass es vieles gab, das sie in ihrem bisherigen Leben nicht zugelassen hatte. Sie hatte immer gefürchtet, von jemandem durchschaut und von innen zerstört zu werden. Johann aber vermochte Vertrauen zu schenken. Sie fühlte, dass er aufrichtig war; und als sie versuchte – zunächst zaghaft, dann mit immer mehr Hingabe –, sich auch ihm anzuvertrauen, erlag sie für eine Weile der süßen Illusion, sie könnte dazu wirklich fähig sein.
    Johann glaubte ihr zunächst nicht, dass eine Frau wie sie mit beinahe dreißig Jahren noch unverheiratet sein könne. Sie versuchte gar nicht erst, ihm unberührt zu erscheinen. Ihre Erfahrungen mit Männern störten ihn nicht; allerdings ließ er keinen Zweifel daran, dass eine geschiedene Frau für ihn nicht infrage käme. Also tat sie ihm den Gefallen, nicht geschieden zu sein. Sie wollte sich auf ihn einlassen. An manchen Tagen bereute sie die Art und Weise, wie sie ihre bisherigen Jahre mehr verbracht als gelebt hatte. Es war nicht schwer, sich eine neue Geschichte zu erfinden. Man musste nur ein wenig üben, auch daran zu glauben. Das abgeschlossene Studium und ihre Tätigkeit als Buchhalterin in einer Fabrik für Landmaschinen waren eine angemessene Geschichte, und sie glaubte sie umso leichter, als sie Johann zu gefallen schien. Sie dachte, dass mit ihm zusammen vielleicht ein Leben möglich sei. Dann wurde sie schwanger, und Johann drängte zur Heirat.
    Er führte damals die Bank zusammen mit seinem Bruder; es war nicht abzusehen, ob sein kranker Vater noch einmal in die Firma zurückkehren würde. Gleichzeitig schien Johann von seiner Entscheidung, die Geschäfte weiterführen zu wollen, nicht überzeugt. Er wollte studieren; die Bewahrung des Familienerbes war eine Pflicht, der die Verlockung eines selbstbestimmten Lebens gegenüberstand. Sie drängte ihn nicht zur Pflicht. Sie wollte ein großbürgerliches Leben, aber sie war auch verliebt.
    Als sie ihm die Schwangerschaft gestand, war sie bereits im vierten Monat; die vollendeten Tatsachen, die sie ihm ersparen wollte, hatte

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