Gibraltar
verstand.
Ihr Wunsch nach einer eigenen, von ihr geleiteten Stiftung ging nicht in erster Linie auf ihre karitative Affinität zurück, obwohl sie es durchaus so darzustellen verstand. In Wahrheit wollte sie von Johann unabhängiger werden. Sie wusste, dass ihre Mutterschaft sowie Johanns patriarchale Familienideale diesen Bestrebungen widersprachen. Sie war allenfalls als Repräsentantin des Hauses vorgesehen; eine eigene Entfaltungsmöglichkeit, die mit ausreichend gesellschaftlicher Akzeptanz ausgestattet war, um auch von Johann unterstützt zu werden, konnte daher nur im Stiftungswesen bestehen. Auch hier war der gestalterische Freiraum begrenzt. Da Johann bereits das kulturelle Feld abdeckte, blieben gesundheitliche Vorsorge, Erziehung oder Bildung, daneben einige untergeordnete Themenfelder wie Denkmalschutz oder transatlantische Beziehungen, die für sie nicht infrage kamen.
Nach vielen Überlegungen machte sie Johann schließlich den Vorschlag, eine Stiftung für Bedürftige zu gründen. Wer einen schlechten Start gehabt habe in sein Leben, argumentierte sie, wer die falschen Eltern gehabt, die falsche Schule besucht und den falschen Freunden vertraut habe, wer sein letztes Geld und Gut, die Gesundheit und vielleicht sogar den eigenen Körper verkauft habe, der sei gebrandmarkt und ausgestoßen, bevor die Jugend beendet sei. Nicht jeder könne sich aus eigener Kraft befreien. Die meisten verzweifelten, rutschten weiter ab und seien in naher Zukunft für die Gesellschaft verloren. Diese Menschen seien fast immer arbeitslos, und immer hätten sie Schulden. Viele von ihnen würden gern ein normales Leben führen, mit einer Wohnung, Arbeit, Kindern; doch für sie fehlte es schon an der ersten Chance.
Johann interessierte sich für ihre Rede; er schien überrascht, dass Helene viel von diesen Menschen zu wissen, und wenn nicht zu wissen, dann doch zu verstehen schien. Über Wochen diskutierten sie das Thema. Auch Johann brachte seine Vorstellungen ein; etwa, dass eine allzu offenkundige Entschuldigung von Drogenmissbrauch für ihn nicht infrage komme und dass Armenspeisungen der reinste Sozialkitsch seien. Sie unterhielten sich konstruktiv, und Helene spürte, dass er ihr Engagement ernst nahm; das gemeinsame Thema stiftete Nähe zwischen ihnen. Schließlich machte Johann den Vorschlag, die Schulden als Kristallisationspunkt für Benachteiligung zu sehen. Ganz gleich, worauf sie zurückgingen, die Schulden seien die erste und schwerste Fessel, die es abzustreifen gelte. Die Stiftung, wenn es eine geben würde, sollte sich zur Aufgabe machen, die Gläubiger zu einem teilweisen Schuldenverzicht zu bewegen und andererseits zinsloses Geld zur Verfügung zu stellen, mit dem die jungen Menschen die restlichen Schulden abbezahlen konnten. Die Mittel sollten zum Teil direkt von der Bank, zum Teil aus öffentlichen und privaten Spenden bestritten werden.
Helene regte an, die Einrichtung nach der Ehefrau des Stifters zu benennen: Helene-Alberts-Stiftung . Johann gefiel der Vorschlag. Nach zwei weiteren Monaten lagen die Papiere unterzeichnungsbereit beim Notar.
4
Ulla Krumm war gekommen und hatte warme Brötchen und die Sonntagszeitung gebracht, wie Johann sie zu seinem Frühstück liebte. Geliebt hatte. Helene vertrug seit einiger Zeit kein Weißmehl mehr, sie aß Müsli, meistens allerdings nicht einmal das.
Ulla stellte ihre Tasche ab und sah aus dem Fenster. »Haben Sie diesen Mann bemerkt?«
Helene stand auf und folgte ihrem Blick. In einem älteren BMW auf der anderen Straßenseite saß ein Mann, der zu ihrem Haus hinübersah. Er war durch die Scheibe nicht zu erkennen, doch sie wusste, wer es war. Auch Thomas war aufgestanden und zu ihnen ans Fenster getreten. »Das ist er.«
»Kann schon sein.« Helene setzte sich wieder an den Tisch und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich würde allerdings gerne wissen, warum du so erpicht darauf bist, mit ihm zu sprechen.«
»Ich bin nicht erpicht darauf. Ich will nur …«
»Du willst nur was?«
»Überlegen Sie genau, wen Sie zum Freund haben wollen!«
Im selben Moment, als sie einen Sicherheitsmann hatte herbeiholen wollen, öffnete sich die Eingangstür; Milbrandts Frau war hereingekommen. Sie trug ein enges schwarzes Kostüm, einen schwarzen Haute-Couture-Hut mit Schleier und eine große schwarze Sonnenbrille. Formal erfüllte sie den Dresscode einer Beerdigung, dennoch empfand Helene alles an ihrem theatralischen Auftreten als Unverschämtheit.
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