Gibraltar
Sie blickte in ihre Richtung und kam auf sie zu. Schon vor drei Tagen hatte sie Helene das Beileid ausgesprochen. Sie hatte ihr wortreich ihr Bemühen geschildert, Bernhard in Spanien zur Rückgabe des Geldes zu bewegen, und unter welchen Umständen es gescheitert war. Nichts davon hatte sich überzeugend angehört; Helene misstraute ihr. Allein wie sie nun die Bühne nutzte, um vor aller Augen ihre aufrichtige Erschütterung zu demonstrieren, bot Anlass genug dazu.
Sie hatte den Raum halb durchquert, da blieb sie unvermittelt stehen. »Sie?«, entfuhr es ihr. Obgleich sie in Helenes Richtung sah, war dieser klar, dass sie Gudvang meinte.
»Kennen Sie diesen Mann etwa?« Ohne dass Helene antworten konnte, fuhr die Sudek, an Gudvang gerichtet, fort: »Wie können Sie sich erdreisten, hier aufzutauchen?« Unversehens begann sie mit einer Suada, die erst Minuten später endete. Helene verstand vage, dass es zwischen den beiden eine Vorgeschichte gab, die sie allerdings nicht begriff und auch nicht recht interessierte; zumindest schien klar zu sein, dass sie sich seit einiger Zeit kannten. Sie war dankbar, als sich Thomas einmischte. Der hatte sich bisher am äußersten Rand der Trauergesellschaft aufgehalten: zunächst an ihrer und Stefanies Seite in der ersten Reihe der Prozession, dann vor dem Hintereingang des Museums, wo er die meiste Zeit allein mit seinem Hund auf den Stufen saß.
»Sie müssen diesen Mann sofort von hier entfernen«, wandte sich die Sudek an Helene, »er hat mich angegriffen. Er ist körperlich übergriffig geworden.«
Helene versuchte, Ruhe zu bewahren. »Sie kennen ihn also?«
»Ich? Nein, um Gottes willen. Aber er hat versucht, mich zu …« Sie rang mit den Worten. Dann setzte sie ihre Rede, deutlich lauter, an Gudvang gerichtet fort: »Sie sollten sich schämen! Was für eine bodenlose Respektlosigkeit von Ihnen, sich hier einzuschleichen!«
Gudvang, der offenbar mit einem körperlichen Angriff rechnete, trat einen Schritt zurück, stützte sich am Büfett ab und warf mit großem Getöse eine Platte mit Lachs-Entrecotes sowie eine Schüssel Chilisalat um. In diesem Moment bemerkte Helene Thomas neben sich. Ohne Gudvang zu beachten, sagte dieser leise zur Sudek: »Das gilt auch für Sie. Ihr Auftritt ist extrem unpassend!«
»Nein, nein, ich wollte doch nur … Dieser Mann will den Frieden Ihrer Familie stören. Gott, es ist doch nicht wegen …? Ich habe Ihrer Mutter doch schon erklärt, weswegen wir den Wagen nehmen mussten . Ich habe doch nur versucht, Ihnen zu helfen !«
Inzwischen ließ sich Gudvang widerspruchslos von einem Sicherheitsmann hinauseskortieren. Thomas antwortete der Sudek, sichtbar um Beherrschung bemüht: »Das mag sein.« Helene wusste nicht recht, worauf die Rede ihres Sohnes hinauslaufen würde. Offensichtlich glaubte er der Frau nicht. Die Augen der meisten Trauergäste waren jetzt auf die beiden gerichtet, die Szene hatte großes Aufsehen erregt. Thomas schien nun einzusehen, dass er mit der Situation überfordert war; Helene erkannte es an dem hochroten Kopf und seinen zitternden Lippen. Sein Hund blickte mit aufgestellten Ohren an ihm hoch. In wenigen Sekunden würde Thomas die Flucht ergreifen. So war es immer gewesen.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie mit lauter Stimme in Richtung der Gäste, um sie zu beschwichtigen. »Ein kleines Missgeschick. Ich lasse das gleich aufwischen.«
Thomas hatte sich dann vor der Tür noch mit der Sudek unterhalten; zumindest hatte Helene ihn mit ihr hinausgehen sehen. Danach hatte sie ihn aus den Augen verloren, da sie beinahe unablässig Beileidsbekundungen entgegennahm. Jetzt fragte sie sich, was er mit der Frau wohl zu bereden hatte. Und ob er nur mit ihr geredet hatte.
Ulla riss sie aus ihren Gedanken. »Sie haben ja noch gar nicht gefrühstückt, Frau Alberts. Herr Alberts, möchten Sie vielleicht ein Omelett?«
Helene schüttelte den Kopf.
Thomas sagte: »Ulla, wir kennen uns schon so lange. Kannst du nicht Thomas zu mir sagen?«
»Entschuldigung, Thomas. Möchten Sie ein Omelett?«
»Es geht nur darum«, sagte dieser nickend, »dass ich Transparenz für eine gute Sache halte, Mutter.«
»Aber es geht nicht darum, was du für eine gute Sache hältst. Es geht um die Bank. Wir können uns diese Art Aufmerksamkeit im Moment nicht leisten.«
»Ich habe ihn gefragt, was er will. Diesen Gudvang. Gestern.«
»Also hast du doch mit gesprochen?« Unwillkürlich dachte Helene an den Artikel
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