Gibraltar
so die Zeit geschaffen. Er war bestürzt; nicht über die Schwangerschaft, sondern über ihr Schweigen. Beinahe augenblicklich entschied er, ein Haus zu suchen. In Fragen der Familie, erklärte er apodiktisch, gebe es für ihn keine zweite Meinung.
Nächtelang dachte sie darüber nach, über die niederländische Grenze zu fahren und das Kind töten zu lassen. Manchmal, und in minutenweisem Wechsel, schämte sie sich dieser Gedanken und fühlte dann trotzig, dass sie ihnen doch nicht widerstehen würde. Ein eigenwilliger Stolz hinderte sie, sich in die Rolle einer liebenden Versorgerin versetzen zu lassen, die wiederum von höherer Hand versorgt wurde. Doch dann wieder ahnte sie, dass das, was sie wirklich suchte, nichts war. Johann liebte sie; und auch sie ließ sich, wenn sie in der Nacht seinen nackten Körper an ihrem spürte, dankbar von ihm lieben. Auf welches Leben man sich auch einließ, es wurde einem immer zur Lüge; warum also nicht dieses?
Sie war bereit, ihm bis zu einem bestimmten Punkt nachzugeben; sie wehrte sich nicht gegen das Kind. In die kirchliche Heirat dagegen konnte sie um keinen Preis einwilligen; sie konnte einfach nicht.
Seine Entgeisterung hätte nicht größer sein können. Für ihn war es unbegreiflich, wie man einen Verzicht auf diese Zeremonie überhaupt erwägen konnte. Es sei der größte Tag im Leben. Alle in ihrem Umfeld, seine Familie, die Freunde, würden denken, es sei keine Heirat aus Liebe, sondern aus Notwendigkeit, und daher nicht wert, sie auch vor Gott zu bekräftigen. An Gott, antwortete sie, glaube sie nicht, und ihre Familie sei tot.
Die Antwort überzeugte ihn nicht. Über Wochen stritten sie über das Thema. Helene entschied sich schließlich für eine Mischung aus metaphysischer und schwangerschaftsbedingter Übelkeit, die chronisch andauerte bis zur Niederkunft. Sie war sicher, dass Johann dies als Manöver erkannte. Aber mit der Erklärung ihrer körperlichen Verfassung konnte er immerhin öffentlich begründen, warum, in diesem speziellen Fall, allenfalls eine kleine Zeremonie vorstellbar sei; die kirchliche Trauung würde dann später nachgeholt werden, irgendwann.
Gegen Ende ihrer Schwangerschaft befriedete sich das Thema, es wurde still und schön zwischen ihnen. Wenn er ihren gespannten Bauch streichelte, fühlte sich die Illusion ebenso real an wie seine warme Hand; in diesen Momenten gab es für sie nichts anderes.
Das Zerwürfnis zwischen ihnen brach erneut auf, als der kleine Kreis der Hochzeitsgäste nach der Trauung Fragen über Ort und Termin der kirchlichen Trauung stellte; in Johanns verdrucksten Erklärungen erkannte sie seine Enttäuschung. Seine Entscheidung, die Hochzeitsreise unter Verweis auf ihren »Zustand« ausfallen zu lassen, interpretierte sie als Kontenausgleich, gegen den sich nichts einwenden ließ. Dass die Hochzeitsreise auch nach der Geburt nicht stattfand, lag wiederum an ihr selbst; sie wollte in dieser Zeit nichts als sterben.
Es gab damals weder Baby-Blues noch postnatale Depression; wenn man also sterben wollte, dann hatte man selbst etwas falsch gemacht, und Johann verstand es nicht anders. Sie sprach über Wochen nicht mehr als zehn Sätze mit ihm. Gleichzeitig war Johann durch die Bank stark beansprucht. Unter der Führung seines Bruders Erich waren riesige Gewinne entstanden; Johann leitete die Übernahme der Wilhelm Findorff Privatbank KG in München, die 1971 Konkurs angemeldet hatte. In den folgenden zwei Jahren kamen zwei weitere Niederlassungen hinzu, die Düsseldorfer Bau-Kredit-Bank AG sowie die bankrotte I.D. Herstatt in Köln. Johann schien sich über die Leblosigkeit seiner Frau zu trösten, indem er den Traum seines Vaters verwirklichte.
Wenn Helene fair war, musste sie zugeben: Er tat sein Bestes für sie. Zwar wusste er, ebenso wie sie, wenig mit dem kleinen schreienden Bündel anzufangen. Sie begriff, dass er es als ihre Aufgabe ansah, sich damit zu befassen. Ihre Wut darüber war ungerecht; sie wünschte sich, ihr Kind zu lieben, Johann, ihr Leben. Doch es war schwer. Wochenlang glaubte sie, über ihr Versagen nicht hinwegzukommen.
Johann engagierte eine Kinderfrau, die Helene von dem Gefühl befreite, das Kind schnüre ihr die Luft ab. So konnte sie sich zurückziehen, allein sein, die Augen schließen oder lesen. Mit der Zeit wurde es besser. Johanns Familie interessierte sich für sie, man war mitfühlend; sein Bruder Erich schickte jede Woche Blumen. Die Erfolge der Bank, Johanns
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