Gibraltar
gehobene Laune, am meisten aber seine berufsbedingte Abwesenheit und die große telefonische Nähe während dieser Abwesenheit – dies alles half ihr, langsam zu sich zurückzukehren. Eines Morgens ging sie in das Kinderzimmer, Thomas lag still in seiner Wiege und betrachtete seine Hände. Carla, die Kinderfrau, saß daneben und strickte. Als Helene Thomas aus seinem Bettchen nahm, lächelte er sie an, und zum ersten Mal fühlte sie wieder die Kraft, das Lächeln zu erwidern.
Zwei Jahre lang, bis zu Erichs Tod, lebten sie zusammen, wie glückliche Familien es tun. Als Thomas zwei Jahre alt war, wurde sie erneut schwanger. Eine Geschäftsreise nach New York, die sie aus Rücksicht auf den kleinen Thomas ohne ihn machten, geriet ihnen zur nachgeholten Hochzeitsreise. Sie verstanden sich innig; die Nächte in den exklusiven Hotels gaben ihr vollends das Gefühl zurück, eine Bedeutung zu haben. All jene Gefühle, die sie bisher abgewiesen hatte – Dankbarkeit, Geborgenheit, das Bedürfnis nach unerreichbarer Nähe –, überfluteten sie nun, und sie ließ es geschehen, hilflos und geradezu willig.
Am vorletzten Abend in New York, sie waren auf der Cocktailparty eines deutsch-amerikanischen Fluglinien-Investors eingeladen, standen sie allein auf dem Balkon im 17. Stock. Sie blickten über den Central Park; drinnen spielte Musik, Partygäste plauderten. Sie war von den Verpflichtungen der Reise matt und erschöpft; doch der Anblick der Stadt, in lichtes Blau getaucht, überwältigte sie. Ohne plausiblen Grund kamen ihr Tränen. Sie wusste, dass Johann seit Thomas’ Geburt ihre Stimmungswechsel fürchtete. Dennoch lächelte er sie jetzt an. Bist du schön , sagte er, und: Ich liebe dich . Als sie das hörte, versuchte sie ein Lächeln: Es tut mir so leid . Und er sagte in jenem gewichtslosen Tonfall, den sie ihm als aufrichtig abnahm: Es spielt keine Rolle mehr. Wir sind zusammen. Der Rest ist vergessen.
Zwei Tage nach Stefanies Geburt ging Helene schon mit beiden Kindern spazieren. Es war Spätsommer; endlich schien sie bereit zu jenem Leben, in dem sie ohnehin längst steckte.
Einige Wochen später stand Johann abends mit beinahe durchsichtigem Gesicht in der Tür; seine Aktentasche war ihm aus der Hand geglitten. Sie befürchtete einen Herzanfall und war geradezu erleichtert, als er ihr tonlos den Grund seiner Bestürzung nannte. Erichs Tod erschütterte das gesamte Bankhaus Alberts bis in die Filialen hinein. Um mit ruhiger Hand das Vertrauen von Mitarbeitern und Kunden zu bewahren, blieb niemand anderer als Johann; die Rückkehr des Vaters war inzwischen durch eine Demenzerkrankung endgültig unmöglich geworden.
Es zeigte sich, dass Erichs Investmentsparte, die astronomische Gewinne generiert hatte, inzwischen zu einem großen Risiko für die Bank geworden war. Die aufgehobene Goldbindung des Dollars brachte starke Währungsschwankungen mit sich, auf die die Märkte sich nur langsam einstellen konnten. Die Bank hatte hohe Verbindlichkeiten gegenüber der Chase Manhattan angesammelt, die beglichen werden mussten. Schließlich konnten viele Unternehmen wegen der Ölverknappung durch die OPEC ihre Kredite nicht bedienen.
Die Trauer vereiste Johanns Gesichtszüge, der Stress ließ sie nervös zucken; so entstand eine Maske der Selbstbeherrschung, die Helene kaum als die ihres Mannes erkannte. In diesen Monaten schien ein Konkurs der Bank in greifbarer Nähe, und jeder der Mitarbeiter wusste es.
Die Bau-Kredit-Bank, die Alberts zwei Jahre zuvor übernommen hatte, verhinderte schließlich mit ihren Gewinnen, dass man in Zahlungsverzug geriet. Die Bank fing sich wieder. Als erste Konsolidierungsmaßnahme fuhr Johann den Devisenhandel zurück und baute die traditionellen Standbeine der Bank weiter aus, Firmenkredite und Vermögensverwaltung. Sie sah, wie er mit sich rang: Sein Bruder hatte die Bank groß gemacht. Doch das Wirtschaftswunder war endgültig zu Ende; Johann musste nun das Erreichte absichern. Er arbeitete viel; er fehlte ihr.
Es war das Credo des Bankhauses Alberts, die Gesellschaft, der sie diente, an ihren Erfolgen teilhaben zu lassen. Johann, der diesen Gedanken schon früh verinnerlicht hatte, plante ein eigenes Museum für seine große und stetig wachsende Kunstsammlung. Er suchte nach einem Industriebau der Gründerzeit, mit dem er die Verschränkung von Kunst und Handwerk ebenso zu betonen hoffte wie die Tatsache, dass er sich als Förderer der freien Unternehmerschaft
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