Gibraltar
nicht nur. Sag mal, was fragst du mich eigentlich aus? Was machst du denn so in Amiland? Hast du einen Freund? Verdient er viel Geld?«
»Ich verdiene mein Geld selber. Und du? Bist du mit dieser Valerie zusammen? Die ist ganz schön jung.«
»Ach, daher weht der Wind«, sagte er und tat, als sei er beleidigt. Obwohl sich die beiden selten sahen, dachte Helene nun, verstanden sie sich auf eine sehr vielschichtige Weise gut, fast so, als lebten sie miteinander. Sie hatte sich immer gefragt, warum das nicht so einfach war, wie es aussah.
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich habe sie mitgenommen, weil sie was mit ihrem Vater zu klären hatte.«
»Das haben im Moment ja so einige Leute«, sagte Stefanie.
»Sie hat psychische Probleme«, ergänzte Thomas.
»Wie offensichtlich alle in ihrer Familie«, warf Helene ein und befand es augenblicklich für überflüssig.
»Aber ist sie deine Patientin, oder was?«, hakte Stefanie nach.
»Nein. Nicht direkt.«
»Also sie ist nicht deine Freundin und nicht deine Patientin. Wieso hast du sie dann mitgenommen?«
»Weil ich mich von etwas befreien wollte.«
Thomas schien das unter großer Anspannung zu sagen. Helene wunderte sich plötzlich, wie durch Stefanie aus ihrem Sohn plötzlich jemand wurde, der seine Gedanken offenbarte. Und wie leicht dies schien, wenn man nur die richtigen Fragen stellte. Es reichte sogar, wie jetzt von Stefanie, ein fragender Blick.
»Ich habe versucht, mich von einer falschen Schlussfolgerung zu befreien.«
»Und welcher?«
»Dass ich niemandem helfen kann, solange ich in den Geschichten der anderen nur meine eigene entdecke.«
»Und was ist das, deine eigene Geschichte?«
Thomas sah zu seinem Hund, der reglos auf seiner Decke lag. Dann wandte er sich plötzlich an Helene und sagte: »Ich hatte immer das Gefühl, dich retten zu müssen. Ich meine, du hast uns ständig vermittelt, wie schlimm alles ist. Wie sehr du unter ihm leidest.« Thomas sah hilfesuchend seine Schwester an, doch deren Blick blieb unbestimmt. »Aber wenn du so sehr unter ihm gelitten hast, warum hast du dich dann nicht einfach getrennt?«
»Ich habe nicht unter eurem Vater gelitten. Wie kommst du denn darauf?«
»Wie ich darauf komme? Getrennte Zimmer, zum Beispiel. Keine gemeinsamen Mahlzeiten. Zettel auf den Tischen. Als hätte er dich für irgendwas bestraft.«
»Das ist doch dummes Zeug, Thomas.«
»Es sah aber so aus.«
»So sieht das eben aus, wenn man dreißig Jahre verheiratet ist.«
»Damals waren es noch keine dreißig Jahre.«
»Man läuft doch nicht herum und teilt allen ungefragt mit, wie man zueinander steht.« Nun war Helene es, die Stefanie ansah. Stefanie war weitaus weniger hysterisch in diesen Dingen. Stefanie war rational. Stefanie sagte: »Vater hat mir mal erzählt, du hättest ihn betrogen. Stimmt das?«
Im ersten Moment glaubte sie, nicht richtig gehört zu haben. Sie war benommen. Vielleicht hatte sie eine falsche Bewegung gemacht, denn plötzlich spürte sie wieder den brennenden Schmerz in ihrem Rücken. »Das … das sind doch alles uralte Geschichten«, sagte sie schließlich.
»Was heißt das, ›betrogen‹?«, fragte Thomas in Stefanies Richtung.
»Es heißt«, setzte Helene an, doch Thomas unterbrach sie.
»Ich glaube, es hat keinen Sinn, wenn du darauf antwortest. Ich frage Stefanie. Was hat er dir erzählt?«
»Wieso soll es keinen Sinn haben, wenn ich mich selbst äußere?« Sie bemerkte, wie ihre Stimme kippte; wie sie sie immer weniger als ihre eigene erkannte. »Ich …«
Aber Thomas unterbrach sie abermals: »Weil du nicht die Wahrheit sagst. Du sagst nie die Wahrheit.«
»Das bedeutet, du nennst mich eine Lügnerin?«
»Trinken Sie noch einen Schluck Kaffee, Frau Alberts?«
»Danke, Ulla, ich möchte keinen Kaffee. Ich bin gekränkt und enttäuscht, dass mein Sohn –«
»Du hast überhaupt keinen Grund , gekränkt und enttäuscht zu sein!«
»Ich möchte das jetzt gern zu Ende sagen!« Dies hatte Helene beinahe geschrien. Auch Thomas hatte die Lautstärke seiner Stimme nicht mehr unter Kontrolle. Alles hatte sich plötzlich gefährlich verschoben. In diesem Moment spürte sie nicht, dass Thomas ihr Sohn, dass Stefanie ihre Tochter war. Da saßen Fremde, die über sie richten wollten.
»Du weißt nichts«, sagte sie jetzt. »Und auf diese Art wirst du auch nichts erfahren.«
5
Einige Tage vor der Unterzeichnung des Stiftungsvertrags hatte Johann sie zu sich gerufen. Sie hatte am Telefon gefragt, ob etwas
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