Gibraltar
Gehirnerschütterung konnte sie Arme und Beine wieder bewegen. Nach nur einer Woche durfte sie das Krankenhaus verlassen. Zur Therapie des Halswirbelbruchs musste sie allerdings einen Halo-Fixateur tragen. Zwar konnte sie sich frei bewegen, doch ein Haltering war über Titanschrauben in ihrem Schädel verankert und fest mit einem Korsett verbunden, sodass sie den Hals nicht drehen konnte. Die Prozedur dauerte dreizehn Wochen.
Das metallische Gebilde, das ihr aus Kopf und Schultern zu wachsen schien, stieß Johann offenkundig ab; sein Mitgefühl blieb geschäftsmäßig. Sie versuchte, ihm fehlende Anteilnahme zu unterstellen, doch das traf es nicht. Es war nicht so, dass er sie ignorierte. Tatsächlich verbrachte er jedes Frühstück mir ihr und den Kindern, auch zum Abendessen erschien er pünktlich. Er erzählte in knappen Sätzen von seinem Arbeitstag, fragte die Kinder nach der Schule und sie, ob sie Schmerzen habe. Er gab sich Mühe; nur war ihr nicht klar, worin diese Mühe genau bestand.
In der ersten Zeit hielt sie sie für den ehrlichen Versuch, zu vergessen, was er über sie erfahren hatte; beziehungsweise mit diesem Wissen zu leben. Dann erkannte sie, dass sein Verhalten, ebenso wie ihres, in einem starren Korsett steckte, in dem außerplanmäßige Bewegungen nicht vorgesehen und daher nicht möglich waren. Auf ihre Frage, was nun mit der Stiftung geschehe, antwortete er, dass die behördliche Anerkennung inzwischen ergangen sei; natürlich habe er, da sie bis auf Weiteres ausfalle, den Vorstand anderweitig besetzt.
6
»Erstens bin ich euch keine Rechenschaft schuldig«, sagte Helene. »Und zweitens entschuldigt ihr bitte, dass ich im Moment ganz andere Sorgen habe. In ein paar Stunden wird der Notar kommen.« Und mit ihm, dachte Helene, käme Johanns Testament. Das Erbe anzunehmen würde nach gegenwärtigem Stand für sie bedeuten, sämtliche Schulden Johanns auf sich zu nehmen und damit sämtliche Schulden der Bank.
»Siehst du?« Thomas hatte wieder das Wort an sich gerissen, er sah seine Schwester an. »Sie macht doch gar nicht den Versuch! Was werden wir jetzt hören? Bestimmt keine Erklärung dafür, dass in diesem Haus seit dreißig Jahren eine Atmosphäre wie in einer Grabkammer herrscht. Glaubst du, wir werden irgendwas, irgendwas hören, das auch nur im Ansatz ihre Rolle infrage stellt?«
»Ich mag es nicht, wenn du so sprichst, als sei ich nicht hier.«
»Du benimmst dich schon mein ganzes Leben lang so, als seist du nicht hier! Ich meine, als er mich mit Carolin auseinandergebracht hat, hast du da auch nur ein Wort gesagt, um das zu verhindern? Nein, du hast dich nicht getraut, etwas gegen ihn zu sagen, oder was weiß ich. Jedenfalls hast du nichts gesagt, nie. Und jetzt erfahre ich, dass er mir hintenrum Kunden zugeschustert hat aus der Bank, und das sagt mir auch keiner.« Und zu Stefanie: »Hast du davon gewusst?«
Stefanie zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Sofort wendete Thomas sich wieder Helene zu. »Du hast das die ganze Zeit gewusst, und du wusstest auch, dass ich es nicht gewollt hätte. Unter keinen Umständen.«
»Thomas, ob du mir glaubst oder nicht, ich habe nicht gewusst, was dein Vater tut. Er hat mir nie etwas erzählt.«
»Er glaubt, dass ich sie auseinandergebracht habe«, hatte Johann an jenem Abend nach dem Wirtschaftsball nach einer langen Pause zu ihr gesagt. »Ihn und Carolin.«
»Ja«, sagte Helene. Johann war der Verbindung offen abgeneigt gewesen; sie wusste es, genauso wie Thomas es wusste. Carolin war beinahe fünf Jahre älter und verantwortlich dafür gewesen, dass Thomas sein Studium an der Bankakademie und sein Engagement in der Bank beendet hatte. Sie war eine überaus charismatische Frau gewesen, präsent in ihrem Auftreten, körperlich attraktiv und von einer zurückhaltenden, manipulativen Intelligenz. Thomas war gerade zwanzig gewesen. Sie hatte ihm den Kopf verdreht.
»Wie sollte er auch etwas anderes denken?«, hatte sie Johann gefragt.
»Er hat mich im Stich gelassen!«, brach es aus Johann hervor.
Sie dachte einen Moment nach. Etwas daran stimmte nicht. Dass Johann sich in der Rolle eines Verratenen sah, mochte zwischen ihm und ihr seine Berechtigung haben. Thomas hingegen hatte nichts weiter getan, als eine Wahl für sein Leben zu treffen. »Diese Freiheit hast du dir auch einmal genommen.«
»Aber ich habe mich besonnen! Darauf, dass es so etwas wie Verantwortung gibt! Dass man ein Erbe nicht einfach
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