Gibraltar
wegwirft!«
»Das gibt dir nicht das Recht, dasselbe von deinen Kindern zu erwarten. Es war deine Entscheidung.«
»Belehrst du mich?« Er war wütend. Die Wut galt nicht ihr, doch er war dabei, sie umzulenken.
»Ich belehre dich nicht. Thomas hat eine Wahl getroffen, und nun fühlt er sich von dir bestraft.«
»So ist das! Du verteidigst ihn dafür, dass er uns in den Rücken fällt. Das hätte ich mir denken können!«
»Nein, ich verteidige ihn nicht. Es gibt keine Entschuldigung für diesen Artikel. Du weißt, dass ich das glaube.«
Eine Stubenfliege – die erste dieses Jahres – hatte sich durch die offenen Fenster in die Küche verirrt und beschrieb Achten über ihren Köpfen. Stefanie bedeutete Ulla, dass sie noch etwas Kaffee wollte. »Wir haben alle Fehler gemacht«, sagte Helene.
»Ja«, sagte Thomas sarkastisch. »Und was für ein Glück, dass Phrasen nichts kosten.«
»Du hast deinen Vater sehr enttäuscht damals. In der ganzen Art und Weise, wie du dich in der Öffentlichkeit geäußert hast.«
»Ich hab ihn doch vorher schon enttäuscht!«, rief Thomas. »Ich hab ihn mit allem enttäuscht, was ich getan habe. Er hat doch gesehen, dass ich nicht in der Bank arbeiten wollte, das war ja offensichtlich. Und trotzdem war er von mir enttäuscht. Die gleiche Vorwurfshaltung wie bei dir: Als würde man alles falsch machen, allein dadurch, dass man auf der Welt ist! Hat leider nichts gebracht, dass er den verkorksten Sohn ins Internat zur Reparatur schickt. Was war ich erleichtert, als er endlich jemanden gefunden hatte, der richtig funktioniert.«
»Das darfst du nicht sagen.«
Sie ließ den Satz nachklingen in der Stille der Küche. Johann hatte seine Fliege gelockert. Er nahm eine Zigarette aus ihrem Etui, das auf dem Tisch lag, und zündete sie an. Sie wusste, dass er gelegentlich rauchte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Wenn er sich sicher fühlte. Er hatte es selten in ihrer Gegenwart getan. Und dann sagte er völlig unvorbereitet: »Ich habe mit ihr geschlafen. Mit Carolin. Mehrmals.«
Sie war langsam aufgestanden, wie immer den Rücken durchdrückend, um dem Schmerz in der Wirbelsäule zu entgehen. Sie hatte sich an der Spüle ein Glas Wasser geholt. Dann hatte sie sich wieder hingesetzt und Johann gefragt: »Warum sagst du mir das?«
»Es ist doch inzwischen so viel Zeit vergangen«, sagte sie jetzt. Sie wollte dieses Thema beenden; es war nicht der Tag für ein solches Thema.
»Was soll das nun wieder bedeuten?«, fragte Thomas.
»Er hat uns geliebt. Dich als Sohn, mich als Ehefrau.«
»Na, dann ist ja alles in Butter.«
»Ich kann verstehen, dass du ihm das nicht verzeihen kannst. Es muss unbegreiflich für dich sein, was er getan hat.«
Thomas sah verwundert auf und schien durch einen Seitenblick auf Stefanie sicherstellen zu wollen, dass er richtig verstanden hatte. »Ja, das war es auch. Allerdings.«
»Selbst für mich war es ungeheuerlich in diesem Moment.«
»In welchem Moment?«
»Als er es zugab. Wir saßen in der Küche, genau hier. An dem Abend, als wir von deinem Artikel erfuhren.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Thomas verwirrt. »Was hat er da zugegeben?«
Johann hatte damals an ebenjenem Platz gesessen, an dem Thomas jetzt saß. Dessen Blick verengte sich nun, wie es rund zwanzig Jahre zuvor Johanns Gesicht getan hatte. »Seine Affäre mit Carolin.«
»Wie bitte?« In Thomas’ Augen spiegelte sich sukzessives Begreifen. Noch nie in ihrem Leben hatte Helene einen Satz so sehr bereut wie diesen. Sie konnte sich nicht erklären, wie ihr das hatte passieren können. Tonlos sagte sie: »Du wusstest es gar nicht.«
Thomas’ Hund wimmerte im Schlaf.
»Ach du Scheiße«, sagte Stefanie.
»Ich werde kurz den Müll rausbringen«, sagte Ulla.
Thomas verzog grotesk den Mund, als wollte er etwas sagen oder schreien. Dann sagte er nichts. Gar nichts mehr.
Schließlich war sie es, die als Erste die Fassung wiederfand. »Thomas, es tut mir leid. Ich dachte, er hätte es dir erzählt.«
»Ausgerechnet er soll mir das erzählt haben?«
»Oder Carolin. Ich dachte, irgendjemand hätte es dir erzählt.«
»Wer? Der Pressedienst, oder was?«
»Ich will doch damit nur sagen, dass ich dachte, du hättest das all die Jahre gewusst. Euer Verhältnis –«
»Gar nichts hab ich gewusst«, sagte Thomas. Sein Blick war jetzt offen hasserfüllt. Vielleicht bildete sie es sich nur ein. »Gar nichts.«
Helene wünschte sich, dass das Telefon klingeln würde, aber das
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