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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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passiert sei. Seine Stimme klang erstickt. Sie solle nur kommen; sie werde dann sehen.
    Sie ließ sich von ihrem Haus in Dahlem zur Bank bringen. Als sie in die Eingangshalle trat, begegnete ihr Corinna Bartels, die Sekretärin ihres Mannes. Einige der Angestellten nannten sie »die Franz Josef Strauß« – wegen ihrer Leibesfülle, vor allem aber wegen ihres dominanten Wesens. Frau Bartels sah sie mit versteinerter Miene an und deutete grußlos nach oben. Wenn sie später daran zurückdachte, versuchte Helene sich einzureden, dass sie schon im Moment, als sie die Treppe hinaufstieg, ihre Strafe akzeptierte, welche es auch sein würde. Doch das stimmte nicht. Strafe war nur zu akzeptieren, wenn man die Schuld spürte. Sie aber fühlte in all den Jahren danach nur den Widerhall seines vermessenen Vorwurfs.
    Das Erste, was sie sah, als sie die Tür zu Johanns Büro öffnete, war ihr Mann, der an dem kleinen Beratungstisch Platz genommen hatte. Er saß nie dort. Der Gast, der bei ihm war, konnte kein Kunde sein. Er saß mit dem Rücken zur Tür, und noch bevor sie ihn erkannte, schloss sie aus Johanns Miene, dass es niemand anderer als Keitel war.
    Sie setzte sich wortlos an den Tisch.
    »Dieser Herr hier«, sagte Johann, und seine Stimme klang hart und protokollarisch, »erhebt Anschuldigungen gegen dich. Ich kann gar nicht wiederholen, was für Anschuldigungen das sind. Ich möchte das auf der Stelle aus der Welt schaffen.«
    Keitel, aufgedunsener noch als bei ihrem letzten Treffen vor Gericht, mit vor Aufregung geröteter Haut, begann gleich, seine Vorwürfe zu wiederholen: dass sie ihn betrogen, hintergangen und ausgenutzt habe und es bis zum heutigen Tag tue.
    Nichts davon sei wahr, sagte Helene, außer der Tatsache, dass sie mit der Ehe den größten Fehler ihres Lebens begangen habe. Mehr habe sie zu der Angelegenheit nicht zu sagen.
    Beide fixierten sie eisig. Keitel war selbst in seinem Hass unbeholfen und jämmerlich, sie konnte ihn nicht ernst nehmen. Johanns Blick aber traf sie. Es war nicht die Wut darin, sondern die bodenlose Verwunderung über das Eintreten der Schande.
    Es stimme also wirklich, sagte Johann; da war es schon keine Frage mehr. Sie erkannte, dass in diesem Augenblick der Traum ihres gemeinsamen Glücks zerstört war. Durch ihre Schuld zerstört war, und für immer.
    Sie war weit gekommen auf ihrem Weg in ihr Leben. Sie hatte es fast bis zur Vorsitzenden einer eigenen Stiftung gebracht. Sie hatte angefangen, dieses Leben als ihr eigentliches zu betrachten; es zu lieben. Jetzt, mit 38 Jahren, war es zu Ende.
    Es war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn cholerisch erlebte. Sie hatte diesen Charakterzug schon an ihm kennengelernt, auch wenn sie bisher kaum der Anlass dazu gewesen war. Nach Keitels Besuch galt für Tage Johanns ungefilterte Wut niemandem als ihr. Während sie sie über sich ergehen ließ, hoffte sie, dass die Zeit seine Wut langsam abtragen würde, Stein für Stein. Stattdessen aber errichtete Johann mit diesen Steinen über Tage hinweg eine Mauer. Als sie stand, schwieg er. Erst später begriff sie, dass dieses Schweigen der Beginn ihrer Strafe war; einer pathetischen, selbstgerechten, letztlich kindisch monströsen Strafe. Das Schweigen war grundsätzlich und endgültig; es ließ keinen Zweifel daran, wie ernst er sich nahm. Heilig.
    Natürlich redeten sie hin und wieder miteinander, sie waren verheiratet, es war nicht zu vermeiden. Doch dass er seine Gefühle für sie in einer Art Kühlhaus weggeschlossen hatte, sprach aus jedem Wort, das er noch für sie übrig hatte. Selbst ihre schwere Rückenverletzung änderte daran nichts.
    Sie war mit den beiden Kindern auf dem Reiterhof im Grunewald gewesen, wo sie ihre Trakehner-Stute Kinga gelegentlich selbst pflegte. Es war ein ruhiges, sehr ausgeglichenes Tier, auf dem nicht nur sie, sondern auch Thomas sich schon zu reiten traute. Der Unfall war und blieb Helene vollkommen unbegreiflich. Sie machte einen Ausritt, während die Kinder mit den beiden Zwillingssöhnen des Gutsbesitzers in dessen Haus spielten. Kinga stolperte in vollem Galopp. Als Helene wieder zu sich kam, stand das Pferd über ihr und wirkte vollkommen unverletzt. Sie selbst lag im Graben neben einem Maisfeld und konnte vom Hals abwärts ihren Körper nicht mehr spüren.
    Der Grund dafür war ein »Jefferson-Fraktur« genannter Bruch des Atlaswirbels im Kopfgelenk. Die Taubheit ihres Körpers war nur vorübergehend, schon nach dem Abklingen ihrer

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