Gibraltar
gesehen , dachte sie jetzt … War das nicht absurd? Sich gesehen zu fühlen in einem Moment, in dem man als jemand anderer durch die Welt ging?
»Sie wollen mir also erzählen«, lallte Gudvang, »dass Sie dort … also …«
»Ich möchte Ihnen gar nichts erzählen, was Sie nicht glauben wollen oder können«, unterbrach sie ihn. »Sie haben mich nur gefragt, was mich so sicher macht, dass mein Mann auf mich wartet. Sie sehen: Er weiß, dass ich den Weg zu ihm finden werde. Wo immer er ist.«
Gudvang ließ in seinem Plastikbecher etwas kreisen, das kaum noch Schmelzwasser sein konnte. In diesem Moment stellte Carmen fest, dass ihr Flug sich verändert hatte, und ein Blick durchs Fenster bestätigte ihr Gefühl, dass sie an Geschwindigkeit und Höhe verloren: Die wenigen Wolken, die sie weit unter dem Flugzeug vorüberziehen sah, kamen allmählich näher.
»Ziemlich gewagte Interpretation«, wandte Gudvang nun ungefragt ein. »Ich meine, Entschuldigung, aber das klingt, als wäre Ihr Mann der Märchenprinz aus einem Mädchentraum.«
»Ich kann nichts dafür«, entgegnete sie ihm nun barsch, »dass Sie die Träume anderer abqualifizieren müssen, nur weil Sie mit Ihren eigenen gescheitert sind.«
Sie hatte die Schärfe ihrer Äußerung nicht beabsichtigt, doch sie musste zugeben, dass sie langsam die Geduld mit diesem Kauz verlor. Seine Unterstellung berührte Carmen dabei gar nicht. Ob man es für kitschig hielt oder nicht, Bernhard war so etwas wie ihr Retter gewesen, als sie sich kennengelernt hatten: Er hatte sie in einer Lebensphase zu sich genommen, da sie ihren ersten Mann verlassen hatte und ohne alle Sicherheiten mit einem sechsjährigen Kind und einem begonnenen Studium dastand, völlig allein und finanziell abhängig von einem kläglichen Gelegenheitsjob als Kellnerin. Und womit Bernhard sie gerettet hatte, das waren nicht Geschenke und Geld gewesen, sondern Geborgenheit und Liebe.
Das Fasten-Seatbelts-Zeichen leuchtete auf. Gudvang, überraschend genug, ignorierte es und sagte mit nicht zu überhörender Empörung: »Wie kommen Sie darauf, dass ich gescheitert bin? Ich bin nicht gescheitert.«
»Schon gut.«
Gudvangs pfeifende Kurzatmigkeit, die sie während ihrer Erzählung immer wieder wahrgenommen hatte, kehrte nun mit Macht zurück; fast fürchtete sie, der Mann würde an seiner Empörung ersticken.
»Wie kommen Sie dazu, so pauschal über einen winzigen Ausschnitt aus meinem Leben … das müssen Sie gerade sagen! Sie erzählen mir hier freimütig von Ihrem Mann, der seine Bank beklaut hat!«
»Ich habe nicht gesagt, dass er Alberts bestohlen …«
»Wie bitte? Wen?«
Sie biss sich auf die Zunge. Sie hatte ihre Geschichte nicht für Fremde nachprüfbar machen wollen; es war kein bewusster Entschluss gewesen, mehr eine instinktive Vorsicht. Die Auswirkungen ihrer Fehlleistung auf Gudvang indes war gewaltig. Hatte eben seine Atmung lediglich eine gewisse Erregung verraten, so sah er nun aus, als würde er gleich kollabieren.
»Was sagen Sie da? Die Bank, für die Ihr Mann arbeitet … von der Sie erzählt haben … ist Alberts? Das Bankhaus Alberts? Die Bank, die mir den Geldhahn abgedreht hat und mich im Regen stehen lässt, nachdem ich jahrelang pünktlich meine Raten gezahlt habe? Das wollen Sie mir nicht erzählen, oder?«
Sie rückte intuitiv von dem Mann ab, obgleich der Spielraum dazu äußerst begrenzt war. »Ich würde Sie bitten, mich nicht so sehr zu bedrängen, ich vertrage das nicht.«
»Sie vertra–« Er versuchte nun, sich schwerfällig in seinem Sitz zu ihr zu drehen, wobei seine Beine gegen ihre stießen. »Hören Sie, das ist ungeheuerlich, was Sie mir da … Ich will sofort wissen, wo Ihr Mann sich aufhält.«
»Ich sagte ja schon –«
»Ich weiß, was Sie gesagt haben. Sie wissen mit Sicherheit, wo er ist, und ich verlange … Also, ich glaube das alles einfach nicht. Stimmt das? Ist das wirklich wahr?«
Eben tauchten sie in die nun wieder dichtere Quellbewölkung ein. Gudvang vermochte sich kaum zu beruhigen. Einige der Fluggäste aus der gegenüberliegenden Reihe hatten begonnen, die Köpfe nach ihnen zu drehen, offenbar beschäftigte der Disput schon das halbe Flugzeug. Carmen suchte den Innenraum nach einer Flugbegleiterin ab.
»Ich schwöre Ihnen, sobald wir gelandet sind, werde ich der Sache auf den Grund gehen. Ich bin ein Kunde dieser Bank, ich habe ein Recht darauf …!«
»Können Sie vielleicht leiser sprechen, ich
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