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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Kopfschmerzen.
    Er versuchte, ein unverfängliches Gespräch zu führen, ohne professionell zu klingen; fragte nach ihrem Studium, ihrer Arbeit, ihren Freundschaften in Berlin – nach positiv besetzten Erinnerungen also, oder solchen, die es hätten sein sollen. Doch in jedem Satz, den Valerie sprach, antwortete ungefragt ihre Krankheit. Das Kunstatelier, in dem sie bis vor Kurzem gearbeitet hatte, erschien wie eine sinistre Firma, in deren geheimen Zirkeln ohne ihr Wissen über sie abgestimmt, wo fortwährend ihre Leistung bewertet und für ungültig erklärt worden war. Ihr Freund hatte sie hintergangen und verraten. Es gebe »Aktionäre«, die sie finanziell und emotional auszubluten trachteten. Bald bedrückten ihn diese Ausführungen, und er versuchte, die Rede auf lichtere Gebiete zu locken; er schwieg, als dies nicht gelang, ganz. Doch auch das war problematisch, da es die Stimmen, die in Valeries Kopf sprachen, offenbar lauter werden ließ. Sie sagte dann unvermittelt Dinge wie   Es kann dir doch egal sein, wie viel ich rauche , und es entbehrte nicht einer gewissen Komik, wenn Sol Moscot ob der unerwarteten Ansprache zusammenzuckte und wie ratsuchend Thomas ansah.
    Auf ihre schizoiden Symptome einzugehen, verbot Thomas sich strengstens; denn er verstand heute nicht mehr davon als damals, als Valerie und er zum ersten Mal aufeinandergetroffen waren. Dass er jetzt und hier kein Ratgeber sein wollte, war nicht das eigentliche Problem. Es bestand vielmehr darin, dass Valerie ihn dazu   bestimmte , er aber nicht wusste, wie er sich dieser Zuweisung entziehen sollte. Sie sagte unvermittelt: »Mittlerweile wissen alle, dass ich ihn umgebracht habe.«
    Thomas überlegte fieberhaft, was er darauf unter professionell-unprofessionellen Gesichtspunkten sagen durfte. Es fiel ihm nichts ein. Schließlich gab er, für sich selbst unübersehbar hilflos, von sich: »Das hast du sicher nicht.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß, aber – ich habe es gesehen. Ich sehe die Bilder, wie es passiert ist. Es ist alles beschriftet.«
    Thomas wusste, dass er sich nicht, unter keinen Umständen, auf eine Diskussion über die Geschehnisse einlassen durfte, die Valerie erlebt zu haben glaubte: Denn er würde ihre wahnhafte Konstruktion schon allein dadurch für gültig erklären, indem er sie mit ihr teilte. Seine Hände griffen fester um das lederbezogene Lenkrad.
    »Ich weiß, dass man sagen kann, dass ich das nicht gemacht habe«, sagte sie. »Aber das ist anders. Als ob es Beweise gibt.«
    »Valerie, wir sollten darüber nicht sprechen. Nach all dem, was gewesen ist.«
    Sie beugte sich nach vorne, um ihre Sonnenbrille aus dem Handschuhfach zu angeln, der Sitz unter ihr knarrte. »Was   ist   denn gewesen?«
    Gegen die Frage selbst war nichts einzuwenden, was ihn störte, war nur ihre Koketterie, die irgendetwas Außerprotokollarisches unterstellte, wo es nichts dergleichen gegeben hatte. Diese, wie es ihm vorkam, vorsätzliche Missinterpretation ärgerte ihn, ebenso wie das ganze Gespräch. »Ich möchte das jetzt nicht diskutieren«, sagte er, wie er selbst fand, zu schroff; es war, als ob die richtige Klangfarbe, die es für diesen Choral durchaus geben musste, in seinem Register fehlte.
    Er erinnerte sich nicht mehr, wie dann ihr Bedürfnis nach dem Meer aufgekommen war. Es war ein jähes Umbrechen der Stimmung, wie ein erbitterter Verteidigungskampf gegen einen unsichtbaren Feind. Er wusste, dies war typisch für die psychotische Episode. Valerie schien es als Angriff gegen ihr Seelenheil auszulegen, dass Thomas ihr das Meer vorenthalten wollte. Er kannte diesen Topos, ans Meer zu drängen, ob in psychoanalytischer, literaturhistorischer oder melodramatischer Ausprägung. Valeries Insistieren ärgerte ihn nicht, weil ihre Idee verrückt, sondern weil sie dies gerade nicht war. Sie war einfallslos und geradezu abgestanden.
    »Wir können nicht mehr weiterfahren«, sagte er nachsichtig, wie jemand, der einem Kind möglichst schonend den Umstand beibringt, dass am Ende des Tages die Sonne sinken und das Licht mitnehmen wird. »Ich bin müde. Meine Konzentration lässt nach. Ich brauche eine Pause, Valerie.«
    »Aber es ist   wichtig . Sehr wichtig. Ich muss dir was zeigen.«
    Er blieb trotz seiner Übermüdung geduldig. »Ja, das verstehe ich. Es ist nur so, Valerie, dass eine Pause auch wichtig ist, für uns drei, denn es ist zu gefährlich, jetzt weiterzufahren.«
    »Aber es ist   drin -gend!«
    Er versuchte, in

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