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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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seinem Ton freundlich, der Lautstärke zurückhaltend und der Modulation gemessen zu bleiben, und es gelang, obwohl er sich anstrengen musste, gut. Sie hatten die Autobahn verlassen und fuhren durch ein Industriegebiet mit vielen Lücken, wo man der Stadt anmerkte, dass sie gern beginnen würde, aber unentschieden war, womit.
    »Sieh es doch mal so, Valerie, das Meer ist auch morgen noch da.«
    »Ich weiß, dass das bescheuerte Meer auch morgen noch da ist, ich will dir aber jetzt etwas zeigen, verstehst du,   jetzt , und es ist auch nicht nur so ne Idee, sondern ich würde das nicht wollen, wenn es nicht wirklich,   wirklich   wichtig wäre.«
    »Was genau möchtest du mir denn am Meer zeigen?«
    »Mann, ich kann’s dir doch gerade nicht erklären, deswegen will ich’s dir ja zeigen, kapierst du das nicht?«
    »Doch, ich kapiere das gut, Valerie.«
    Fünfzehn Sekunden lang gab es nur Fahrtwind und Motorengeräusch zu hören. »Also fahren wir jetzt ans Meer?«
    »Ja. Morgen.«
    Sie sah ihn an, ruckartig, wie ein Vogel. In ihrem Gesicht las er eine wilde Verzweiflung darüber, dass ihrem Wunsch nicht entsprochen wurde, und während Thomas noch über diese unvermittelte Wesensveränderung – von einer recht gebildeten, zurückhaltenden jungen Frau in eine trotzige Straßengöre – staunte, öffnete Valerie bei Tempo 60 den Schlag des Wagens und schnallte sich ab. Ehe er reagieren konnte, erhob sie sich halb und machte Anstalten, auszusteigen. Er trat mit beiden Füßen auf die Bremse, ohne in den Rückspiegel zu sehen; wie in Zeitlupe verfolgte er, dass sich die Fahrt des Wagens nur allmählich verlangsamte, während Valerie gegen die Armaturen gedrückt wurde; am Ende des Bremsweges, so schien es ihm, wären sie in der Innenstadt angekommen. Dann hupte hinter ihnen ein Wagen, und er konnte den Luftzug, als er links an ihm vorbeischoss, durch das geöffnete Fenster bis in die Haarwurzeln spüren.
    Knapp fünf Stunden später, nachdem er sich und Sol Moscot provisorisch an einer Tankstelle versorgt und die monotone Fahrt bei inzwischen vollständiger Dunkelheit mit viel Kaffee gegen den Sekundenschlaf verteidigt hatte, suchten sie das Meer noch immer. Montpellier lag auf den flüchtigen ersten Blick zwar durchaus an der Küste; auf den zweiten allerdings nicht. Sie fanden wohl ein Gewässer, doch es war nur ein See; am anderen Ufer konnten sie klar die Umrisse fortgesetzten Landes erkennen. In der Dunkelheit konnte Thomas die Topografie nur unzureichend ausmachen, und so endete ihre weitere Suche vorerst zwischen den mittelalterlichen Gemäuern der Innenstadt. Neben seiner Übermüdung machte Thomas am meisten Sol Moscot Sorgen, der sich in dem beengten Wagen immer unwohler zu fühlen begann und, was sonst niemals vorkam, wiederholt jaulte. Das sinnlose Herumkurven in den dunklen, kopfsteinbepflasterten Einbahnstraßen raubte Thomas den Nerv; dazu kam, dass Valerie mit der Karte hantierte wie ein Kapuzineräffchen mit einem Mozart-Libretto.
    »Hier muss irgendwo der Strand sein, ich habe gerade ein Schild gesehen«, sagte sie aufgeregt, »da stand   Place   mit noch irgendwas drauf.«
    Thomas, der des Französischen mächtig genug war, um seine Verärgerung konzentriert wegatmen zu müssen, hielt den Wagen auf einem riesigen menschenleeren Platz zwischen einer Straßenbahnhaltestelle und einem hölzernen Pferdekarussell der vorletzten Jahrhundertwende an und sagte ruhig: »Auf dem Schild stand   Place de la comédie . Das ist dieser Platz hier. Wie du siehst, ist das nicht der Strand. Strand heißt nämlich nicht   place , sondern   plage , verstehst du? Wie das deutsche Wort   Plage .«
    Er bemerkte sehr deutlich den ätzenden Sarkasmus in seiner Stimme und bereute ihn, aber er konnte nichts dagegen tun. Er war am Ende seiner Kräfte. Er hätte die Zündung des ohnehin merkwürdige Geräusche von sich gebenden Wagens augenblicklich ausschalten und hier, auf dem Platz der Komödie, im Sitzen einschlafen mögen, ohne sich noch um irgendetwas zu kümmern. Tatsächlich aber stieg er aus, um sich und seinem Ärger Luft zu machen und den Blutstau in seinen angewinkelten Beinen aufzulösen. Er ging zur Beifahrerseite und holte Sol Moscot heraus.
    »Was ist los?«, fragte Valerie. »Wir sind noch nicht da.«
    Er wollte etwas zur Antwort geben, doch er spürte, dass er seine Beherrschung verloren hatte: Jedes Wort würde jetzt unkontrolliert hervorbrechen. So schlenderte er mit Sol Moscot ein Stückchen über

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