Gibraltar
Wagen und zu Valerie hinübergegangen, und beide sagten: »Veuillez vous calmer, s’il vous plaît.«
Die restliche Fahrt blieb ebenso wortlos wie das Einchecken im Holiday Inn. Oben, im Zimmer, begann Valerie sofort, sich auszuziehen, gedankenlos, bis sie vollständig entkleidet war; dann legte sie sich auf die eine Seite des Doppelbetts, ohne Thomas noch weiter zu beachten. Dieser bereitete, als er aus dem Badezimmer kam und in der Annahme, Valerie schlafe bereits, wortlos ein Nachtlager auf dem Boden. Nachdem er das Licht gelöscht und eine Weile mit offenen Augen dagelegen hatte, hörte er Valeries Stimme, die wie tastend durch die Dunkelheit schlich. »Du hättest mich nicht da stehen lassen, oder?«
»Nein«, sagte er, und die Erleichterung, die er spürte, verstärkte sich noch, als Valerie sagte: »Danke.«
Das Meer erreichten sie schließlich rund siebzehn Stunden später, nachdem sie die gesamte Autopista del Mediterráneo hinuntergefahren waren. Sie hatten Barcelona, Valencia und schließlich Granada hinter sich gelassen, ohne sich an deren Peripherien länger aufzuhalten als für eine kurze Rast.
In all diesen imposanten Städten war Thomas bereits als Ratgeber unterwegs gewesen. Er war in Barcelona, mit seinem Headset im Ohr, stundenlang herumdefiliert und hatte den »Rat«, den er zu erteilen vorgab, doch nur als Rechtfertigung für seine pittoreske Anwesenheit missbraucht. Er hatte sich in die futuristische Ciudad de las Artes y de las Ciencias in Valencia ebenso hineindekoriert wie in die maurische Kulisse der Alhambra, um die architektonischen Hinterlassenschaften als Kronzeugen seiner Entscheidungsmacht auszubeuten; um zu beweisen, dass er sein Leben ein für alle Mal gewählt hatte; um sich zu beweisen. Geholfen hatte er damit nicht einmal sich selbst.
So musste Thomas, als er jetzt mehr und mehr über die Seltsamkeit seines Berufsverständnisses nachdachte, an einen Astronauten denken, der, in seiner Raumkapsel lediglich einen ballistischen Flug absolvierend, für eine Weile an der dünnen Grenze zwischen der Welt und dem Nichts hing, bevor er ohne Verrichtung wesentlicher Dinge wieder zurück zur Erde fiel. Welche Daten hatte er erhoben? Wozu sollten sie verwendet werden? Worauf lief das alles hinaus?
Ihr gestriger Streit trug für Thomas jetzt lediglich die Signatur seines neuerlichen Versagens. Er hatte sowohl darin versagt, sich wie ein Therapeut zu benehmen, als auch darin, sich nicht wie einer zu benehmen. Der Wechsel von der einen in eine andere Arbeitsbekleidung war vollständig misslungen, und so stand er nun nackt, als Privatperson, vor Valerie, ohne Titel, sogar ohne Rolle. An der Kreuzung zwischen ihr und ihm standen keinerlei Signale bereit, den Verkehr ihrer Worte zu leiten. Mit dieser gläsernen Erkenntnis zersprang ihm, als sie an der vollkommen schmucklosen Strandpromenade von La Línea de la Concepción angekommen waren, jegliche Sicherheit darüber, was er in all seinen Städten je gefunden zu haben glaubte.
Einen eigentlichen Strand gab es nicht. Die Promenade, als steingewordene Aufforderung zum Flanieren, lag menschenleer; das Meer klatschte gleichgültig gegen die geschrägte Befestigung. Der einzige Fluchtpunkt, der sich ihrem Blick bot, war der gewaltige gibraltesische Fels, der sich kraftvoll vor dem bewölkten Himmel aufbaute wie ein ehernes Monument, wenngleich offenblieb, wofür es stand. Valerie schien enttäuscht; das Meer, obwohl es nun direkt vor ihr lag, schien sein Faszinosum ohne Angabe von Gründen verloren zu haben.
Sie fanden eine kleine Pension an der Plaza de la Constitución, einem betonierten Platz, der von tristen mehrgeschossigen Mietskasernen der siebziger Jahre umstanden war. Die Umgebung bot die Infrastruktur einer sozialschwachen Banlieue. Die einzig verfügbare Gastronomie war, neben dem Restaurant ihres Hostals, eine Stehpizzeria. Es roch nach länger nicht abgeholtem Müll.
Seit Montpellier schliefen Valerie und er in einem Bett. Thomas ahnte, nein, er wusste, dass etwas daran falsch war, ohne allerdings benennen zu wollen, was. Statt dafür eine Rechtfertigung zu suchen, bemühte er sich, den Verzicht auf eine Rechtfertigung als eine Stärke zu betrachten. Damit hatte er, wie in einem Slapstick der Marx Brothers, allerdings die Rechtfertigung wie durch eine Drehtür wieder eingeführt. Was er da versuchte, dachte er, war wohl, eine Schuld mit einer weiteren Schuld zu löschen wie Feuer mit Gegenfeuer. Und die entscheidende
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