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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Frage dabei war vielleicht nicht einmal, ob er sich etwas vormachte oder nicht, sondern nur, wie viel er sich davon eingestand.
    An Valeries Seltsamkeit hatte er sich inzwischen gewöhnt. Dass sie entweder gar nicht sprach oder sehr viel; dass sie alles Weltgeschehen für eine Art Doppelbelichtung hielt; dass sie sich mit alogischem Starrsinn zehn Euro von ihm lieh, nur um die zehn Euro, die sie in ihrem Portemonnaie bei sich trug, nicht anrühren zu müssen, da sie diese ihrem »Schuldenberater schuldete«, wie sie sich ausdrückte; ja selbst, dass sie eine Abneigung gegen parfümhaltige Pflegeprodukte hatte: Dies alles störte ihn weniger und weniger. Regelrecht fasziniert war er von der Art, wie sie ihre Krankheit als Abenteuer behandelte, von dem möglichst umfassend und detailgetreu berichtet werden musste, mochte es noch so beschwerlich oder furchteinflößend sein. Ihre Wahnideen, die aus den toxischen Zuflüssen ihrer Biografie bis in die Gegenwart strömten, waren für sie letztlich so vorurteilslos interessant wie fremdartige Insekten.
    Allerdings war es durchaus möglich, dass er sich dies alles lediglich einbildete. Vielleicht verschwand ihre Seltsamkeit keineswegs hinter der vermeintlichen Abgeklärtheit, mit der Valerie sie behandelte, sondern lediglich hinter ihrem Körper. Dass dieser ihn sexuell erregte, wenn sie sich ihm mit ungehemmter Selbstverständlichkeit anbot, war eine Tatsache, über die er sich gern ebenso effektiv täuschen würde wie über sein Berufsethos. Natürlich verbot es sich, überhaupt darüber nachzudenken, sich mit Valerie einzulassen, wenngleich er für dieses Verbot weniger und weniger Gründe fand. Woran er sich einst zu halten versprochen hatte, war inzwischen bedeutungslos. Und vielleicht hieß das im Umkehrschluss, dass Bedeutung nur mehr das Gegenteil hatte.
    Eine Stadt wie La Línea hatte Thomas, jedenfalls freiwillig, nur selten bereist. Im 18. Jahrhundert als Verteidigungslinie gegen den Expansionsdrang der britischen Krone gegründet, war sie ein Musterbeispiel für das tumbe Diktat schieren Nutzdenkens. Die zumeist ein- bis zweigeschossige Bebauung, großenteils aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, war mit geradezu obszöner Ideen- und Lustlosigkeit in die Ebene gesetzt, als habe es lediglich gegolten, materielle Platzhalter für die Landkarten der Geostrategen zu installieren. Allein durch hier und dort eingesetzte kräftige Fassadenfarben – Grün, Gelb oder Rot – wurde der Eindruck beinahe aggressiver Lebensfeindlichkeit ein wenig zerstreut, wenn auch nicht gänzlich aufgehoben.
    Diese Stadt nun hatten Valerie und er sich als Basislager für ihre Suche nach Bernhard gewählt, da sie günstig genau zwischen Gibraltar, wo Bernhard mutmaßliche Geschäftskontakte unterhielt, und dem großflächig bebauten Küstenstreifen San Roques lag, wo er möglicherweise Zuflucht gesucht hatte. In einem Telefonat mit Feldberg, der Thomas am Vortag angerufen hatte, war ihm mitgeteilt worden, dass Bernhard an einem Geldautomaten außerhalb von La Línea einen größeren Betrag abgehoben hatte, was seine Anwesenheit endgültig belegte.
    Thomas hatte diese Information selbstverständlich an Valerie weitergegeben, ohne sie damit von irgendetwas überzeugen zu wollen. Sie hatte genickt, als habe sie einen Sachstand zur Kenntnis genommen, der für sie nur von geringem Belang war. Doch Thomas hatte aus den Augenwinkeln beobachtet, dass die Mitteilung in ihr einen Entscheidungskampf darüber auslöste, ob sie sie als erneute Provokation, als Friedensangebot oder aber als bloße Nachricht werten musste.
    »Du glaubst wirklich, dass er dort ist, oder?«, fragte sie ihn.
    »Ja. Du wirst sehen. Und du? Was glaubst du?«
    Sie wandte den Blick nach oben, wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte. Schließlich zuckte sie die Schultern. »Es ist, wie wenn man aus dem Haus geht und nicht genau weiß, ob man das Gas abgedreht hat.«
    »Verstehe«, sagte er und ertappte sich völlig unvermittelt bei dem Gedanken, wie sich Valerie, wenn sie es tun würden, womöglich von allen Frauen, die er je gehabt hatte, unterscheiden würde – einfach dadurch, dass sie so war, wie sie eben war.
    »Oder einmal wollte ich was auf Facebook posten. Nur so. Irgendwas. Was man halt so postet.«
    »Ach?« Und er verabscheute sich für diesen Gedanken, verabscheute, wie es sich in seinem Körper regte, als er sich vorstellte, wie sie sich ohne die geringste Selbstkontrolle unter ihm bewegen

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