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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Wir waren Teil einer fingierten Verabredung. Es tut mir leid. Sie waren die ganze Zeit über allein. Und ich war es auch. Verstehen Sie das?«
    Herr Dorfmeister fragte, ob er den Verstand verloren habe, was, wie Thomas fand, nur begreiflich war. Er fühlte sich allerdings nicht, als habe er den Verstand verloren, also sagte er nein. Das Telefongespräch wurde beendet.
    Er saß lange. Nach dem ersten Espresso bestellte er einen zweiten, später einen dritten. Das Licht in der Halle veränderte sich mit dem Sonnenstand; gegen Nachmittag wurde das Fahrgastaufkommen immer größer, und Thomas hätte reichlich Anlass gehabt, sich bedrängt zu fühlen. Eine ältere Dame mit Sonnenbrille bedeutete ihm, dass sie sich gern zu ihm setzen wollte, da ansonsten kein Stuhl mehr frei war; Thomas tat ihr bereitwillig den Gefallen, ohne sich im Geringsten überwinden zu müssen.
    Sein Telefon klingelte erneut. Es war seine Schwester. Aus irgendeinem Grund wusste er längst, was sie ihm mitzuteilen hatte. Es war eine Koinzidenz, über die er sich hätte wundern müssen, aber er wunderte sich nicht. Er hatte es so erwartet; so und nicht anders.
    »Wir haben jetzt den Termin«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Nächsten Samstag ist die Beerdigung.«
    »Ja«, wiederholte er.
    »Wo bist du?«
    »Ich bin in Madrid«, sagte er. Das Schweigen seiner Schwester erzählte die gewohnte Geschichte. Der Minutenzeiger der großen Bahnhofsuhr rückte auf die Sechs vor; eine Ansage, die er nicht verstand, tönte durch die Halle.
    »Bist du allein?«, fragte Stefanie. Er dachte an Valerie; der Gedanke sandte ein Flackern durch die Verästelungen seiner Nerven und jagte raue Kälte über seinen Rücken, die all seine komplizierten Empfindungen – seine demütige Freude über ihre Entscheidung, zurückzubleiben, als auch seine Scham darüber, dass er in allen Dingen, die je wichtig für ihn waren oder hätten werden können, kläglich versagt hatte – in den vollkommen undifferenzierten Ausdruck einer Gänsehaut überführte. Die Ansage war verhallt.
    »Ja, ich bin allein«, sagte er. »Ich komme heim.«

VALERIE

1
    I hr Job besteht darin, eine Tinktur auf Kunstwerke zu pinseln, damit sie oxidieren. Die Kunstwerke sind abstrakte Gebilde aus Metall, verschweißt oder verlötet. Die einzelnen Teile reagieren immer anders, je nachdem, aus welcher Legierung sie bestehen, das Metall ist nämlich vom Schrott zusammengesucht, und deswegen muss Valerie bei jedem Metall nachsehen, welche Legierung das ist und welche Tinktur sie verwenden muss, damit es anständig oxidiert. Da gibt es eine Tabelle, wo die häufigsten Legierungen drauf sind, und meistens kann sie alles auch ganz akkurat identifizieren und zuordnen, sie ist mittlerweile richtig gut darin. Aber manchmal kommt es auch vor, dass sie eine Legierung, zum Beispiel Bronze, für eine andere hält, zum Beispiel Messing, und dann oxidiert die Tinktur das Metall entweder gar nicht, was egal ist, oder total falsch, was scheiße ist. Dann kommt einer von Falbs Assistenten, zum Beispiel Nils, und regt sich darüber auf, dass Valerie das Metall falsch oxidiert hat, auch wenn es oft passiert, dass Nils am nächsten Tag wieder ankommt und sagt, du, dem Armin hat das irgendwie doch gut gefallen, du kannst das jetzt so lassen.
    Du , so wird sie oft angeredet, nie mit ihrem Namen, immer nur mit   du , so, als sei sie schon auch irgendwie ein Mensch, nur eben kein richtiger, sodass es für einen Namen leider nicht ganz reicht, schade, Valerie. Selbst Nils redet so mit ihr: Du, der Falb muss mal mit dir reden, und deswegen geht sie jetzt durch das Treppenhaus von dem einen Loft-Atelier ins darüberliegende, weil in dem einen die ganzen Kunstwerke und Objekte sind und in dem anderen der Künstler, so als könnte sich der Künstler unmöglich mit seinen Kunstwerken im selben Raum aufhalten, sie hat das noch nie verstanden. Andererseits ist es auch nichts Neues, dass du manches nicht verstehst, denkt sie, während sie hochsteigt und sich Falb vorstellt in seiner komischen Lodenjacke. Falb trägt immer extrem komische Kleidung für einen Künstler, oder vielleicht trägt er sie auch aus genau diesem Grund, bist du schon mal auf diese Idee gekommen, Valerie? – Nämlich   gerade weil   er ein Künstler ist, trägt er eine Lodenjacke wie ein Förster aus Tübingen und dazu ein Wollhemd mit Hosenträgern und ausgebeulte Cordhosen, und das alles sieht noch komischer aus dadurch, dass Falb knapp zwei Meter groß ist und sich

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