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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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nachzudenken: »There is none, I guess.« Im nächsten Moment knirschte das Getriebe, der Wagen machte einen Satz zurück, soff ab, wurde wieder gezündet und schoss dann, den Bauzaun am Ende der Zufahrt streifend, rückwärts auf die Straße. Der Gang wurde gewechselt, und der Wagen, Kieselsteine unter den durchdrehenden Reifen hervorschleudernd, beschleunigte.
    Jetzt, da die Flucht der Männer nicht mehr zu verhindern und seine Bemühungen völlig aussichtslos waren, intensivierte Thomas sie mutig und lief, gemeinsam mit dem pflichtschuldig bellenden Sol Moscot, noch ein gutes Stück die Straße hinunter, auf der der   BMW   rasch kleiner wurde und schließlich verschwand.
    Als Thomas sich umdrehte, war Valerie bereits im Begriff, ins Haus zu gehen.
    »Warte«, sagte er, weil er dunkel ahnte, womit zu rechnen war; doch es war bereits zu spät. Als er die Tür erreichte, sah er nur für einen Sekundenbruchteil, wie Valerie vom Flur aus in einen anderen Raum, vermutlich das Badezimmer, starrte; dann hörte er ihren Schrei, sah, wie sie sich die Hand vor den Mund hielt, und im selben Moment hatte sie sich bereits umgedreht und war an ihm vorbeigelaufen.
    »Valerie! Valerie! Bleib stehen!« Er machte unentschlossen Anstalten, ihr zu folgen, hin- und hergerissen; immerhin, es war möglicherweise eine Entscheidung auf Leben und Tod. Für Bernhard. Endlich überwand er sein Zögern und stürzte ins Haus; im Türrahmen des Badezimmers fing er seinen Schwung mit beiden Händen ab.
    Bernhard lag bekleidet in der leeren Wanne, ein Bein ragte über den Rand, der Hosenschlag war hochgerutscht. Die weißen Fliesen waren mit Rorschachgebilden aus Blut bedeckt. Eine Sekunde lang beobachtete er den reglosen Körper, dann griff er nach Bernhards Handgelenk.
    Hinter sich hörte er Sol Moscot leise knurren.

10
    Tage später saß er am Palmengarten der Estación Atocha in Madrid und trank einen Espresso. Sein Display informierte ihn, dass die Halle, 1892 im Jugendstil erbaut, bis 1992 als Bahnhof genutzt, dann aber von einem Neubau quasi überflüssig gemacht worden war, so dass sie jetzt lediglich als Warteraum und stadtbekannter Treffpunkt diente. Sol Moscot lag zu seinen Füßen und dämmerte, während sie auf ihre Anschlussverbindung Richtung Paris und von dort weiter über Köln nach Berlin warteten. Es war Samstag, der 1. Mai 2010, und draußen schien, soweit er das von hier drinnen beurteilen konnte, die Sonne. Die gusseiserne Dachkonstruktion, vor allem aber die prächtige Palmenoase im Zentrum der Halle verliehen dem Ort etwas Halbwirkliches, ganz analog dazu, dass Thomas sein gesamtes zurückliegendes Leben, insbesondere aber die letzten sechs Tage, als halbwirklich erschienen.
    Sein Telefon klingelte.
    »Nein«, sagte Thomas, nachdem er das Anliegen seines Klienten Herrn Dorfmeister angehört hatte. »Es tut mir leid, aber ich berate nicht mehr … Ab sofort … Nein, Sie nicht, und auch niemand anderen. Überhaupt nicht mehr … Wie? … Ja, das kommt überraschend, aber es ist leider nicht zu ändern. Wissen Sie, es gab ein großes Unglück in meiner Familie, mehrere Unglücke eigentlich, um genau zu sein. Das ist der Grund, weswegen ich mich die ganze Zeit nicht bei Ihnen melden konnte.«
    Gelassen hörte er die Beschwerden des Mannes an, der verständlicherweise wütend und enttäuscht von Thomas war, der ihm seine Dienstleistung, ohne Beibringung einer plausiblen Entschuldigung, zwei Wochen lang vorenthalten hatte. Der Mann erwartete eine Erklärung.
    Ein kleiner Bettlerjunge, nicht älter als sieben oder acht Jahre, trat an Thomas heran und streckte die Hand aus. Er trug verlotterte Kleidung und hatte an der Wange ein offenes, geradezu ekelerregendes Geschwür. Sol Moscot erhob sich und streckte die Glieder, wie um einen routinemäßigen Dienst aufzunehmen. Thomas aber ließ seine Münzen, die er eigentlich für den Kaffee vorgesehen hatte, in die schmutzige Hand des Jungen fallen und lächelte ihn an. Der Junge lächelte nicht und verschwand.
    »Sehen Sie«, begann Thomas, »ich habe Sie in Wirklichkeit nie beraten. Ich kann überhaupt niemanden beraten. Ich habe mich vielmehr hinter einigermaßen überzeugend klingenden Phrasen verschanzt, ich habe so getan, als sei mein Schweigen eine besonders empathische Form des Zuhörens, ich habe meine Indifferenz Ihren Problemen gegenüber als Professionalität ausgegeben. Alles, was ich Ihnen gesagt habe, war wertlos, und wenn nicht wertlos, dann zumindest läppisch.

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