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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Mutter sagt: »Aber das ist doch   Unsinn , mein Schatz.«
    Dann ist Licht in der Tür, ihre Füße stecken in Schuhen, das Fenster im Treppenhaus knallt im Wind gegen die rissige Mauer. Es ist laut. Es ist ihre eigene Stimme, die so laut ist. Wie eine hasserfüllte Stimme aus einer Wasserleitung in der Wand: » Pack   mich ja nicht an!«
    Sie ist schon weit, weit weg, als ihr in all diesem Chaos auffällt, dass sie ihre Mütze vergessen hat.
    Als kleines Mädchen wird die Indexpatientin von der Kindesmutter intensiv geliebt. Intensiv meint hier: in symbiotisch-erdrückender Weise. Diese Liebe ist seitens der Mutter in erster Linie eine Kompensation der weitgehend unerwiderten Liebe zu ihrem Mann. Als Gegenleistung für die Liebe zu Valerie fordert die Mutter deren bedingungslose Unterwerfung. Dem Kind wird in dieser Konstellation eine altersgerechte Entwicklung nur insoweit zugestanden, als sie für die Mutter von Vorteil ist.
    Es trifft wohl zu, dass die kleine Valerie aus Sicht der Eltern ein nicht ganz unkompliziertes Kind ist. Nicht ganz unkompliziert meint hier insbesondere das Symptom der Schuldistanz. Eltern interpretieren ein solches Verhalten oft als bloße Motivationslosigkeit oder Faulheit ihres Kindes. Sie versuchen dann, den Druck auf das Kind zu erhöhen, um den durch das Umfeld suggerierten Vorwurf zu entkräften, sie würden es zu sehr verwöhnen.
    Allerdings gibt die Indexpatientin in den Einzelgesprächen immer wieder und durchaus glaubhaft an, gern zur Schule gegangen zu sein. Sie beschreibt sich als wissensdurstig und aufnahmefähig. Diese Einschätzung wird im Übrigen durch die allgemeine stationäre Diagnostik im Zuge der Erstbehandlung vom 21.8.2006 bestätigt. Ein Intelligenztest ( HAWIK - IV ) hat einen überdurchschnittlichen Wert ergeben. […]
    Der Grund, aus dem die kleine Valerie die Schule nur unregelmäßig besucht, liegt aus Sicht des behandelnden Facharztes vielmehr in der gestörten Beziehung zur Mutter. Ein Teil dieser Störung spiegelt sich in der Tatsache, dass die kleine Valerie Angst um ihre Mutter hat. Sie erlebt die Mutter in der Beziehung zu ihrem Ehepartner als abhängig und schwach. Gleichzeitig erlebt sie die Mutter in Bezug auf sich selbst als grenzenlos stark. Die Indexpatientin hat immer wieder beschrieben, die Mutter habe einen beinahe unbändigen Willen. Als umso verstörender habe sie (die   IP ) die Tatsache erlebt, dass die Mutter gleichzeitig, beziehungsweise in Wirklichkeit, beziehungsweise in einer bestimmten Wirklichkeit, labil und nicht in der Lage sei, sich gegen die Übergriffe des Stiefvaters zu wehren. Die Mutter habe der kleinen Valerie wiederholt beteuert, dass nur sie, das Kind, ihre unverfälschte Liebe verdiene. In Phasen der ehelichen Eintracht und funktionierenden Sexualität hingegen habe die Mutter das Kind kaum beachtet. Die kleine Valerie habe sich dann als störend empfunden, bis die Mutter nach einer neuerlichen Demütigung seitens ihres Partners, resigniert und in tiefer Verzweiflung, dem Kind gegenüber ankündigte, sich umzubringen, für den Fall, dass es sich jemals von ihr abwende. Diese Dynamik wiederholte sich zyklisch und verstärkte sich mit zunehmender Häufung.
    Aus diesem Grund ist es naheliegend, Valeries Verweigerung des Schulbesuchs als gesunde Reaktion auf die ambivalente Hilfebotschaft der Mutter zu deuten. Dabei ist die Diskrepanz zwischen dem von der Mutter eingeforderten Beistand und ihrer fehlenden Wertschätzung desselben ebenso augenfällig wie für ein Kind zutiefst verstörend.
    Erschwerend kommt hinzu, dass Valeries Schuldistanz insbesondere vom Stiefvater, der sich für Valeries Erfolg verantwortlich fühlt, als vorsätzliche Provokation und bewusste Ablehnung seiner Person interpretiert wird. Die   IP   schildert im Einzelgespräch Szenen, die in ihr das Gefühl evozierten, in ihrer Familie unerwünscht zu sein. Diese Szenen schienen sich insbesondere nach der Geburt ihres Bruders eklatant gehäuft zu haben. Dem behandelnden Facharzt ist eine bestimmte Erzählung als besonders signifikant in Erinnerung geblieben. Darin sitzt die Familie beim Abendessen zusammen. Die Mutter verbreitet wortreich ihre Enttäuschung über Valeries Schuldistanz. Sie gibt an, traurig zu sein, lächelt dabei allerdings affektinadäquat. Sie sagt mit leiser Stimme, dass sie Valeries Verhalten als eine Herabwürdigung ihrer, der mütterlichen, Versuche interpretiere, Valerie zu einer optimalen Entwicklung zu verhelfen. Valeries

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