Gibraltar
Stiefvater rechnet dazu die Kosten der Schule vor: Neben den offiziellen Gebühren sind dies Kosten für Essen, Bücher, Schreibmaterial und Fahrtkosten, ganz zu schweigen von der Nachhilfe, die wegen Valeries Fehlen und den damit verschlechterten Leistungen fällig wird.
Die kleine Valerie kann sich vor diesem Tribunal nicht angemessen verteidigen. Sie ist betroffen über ihre eigene Undankbarkeit gegenüber der liebenden Fürsorge und Großzügigkeit ihrer Eltern. Sie schämt sich. Ihre Angst, zur Schule zu gehen, ist ihr unerklärlich, und sie verspricht, am nächsten Tag die Schule unbedingt aufzusuchen. Die Mutter würdigt diese Ankündigung keines Kommentars. Valerie macht sich umso schwerere Vorwürfe, als sie bemerkt, wie unglaubwürdig ihre Ankündigungen bereits geworden sind. Als sie es wagt, hilfesuchend ihren Stiefvater anzusehen, zieht dieser Valerie eine von ihr als vollkommen unpassend und geradezu verrückt erlebte Grimasse, über die er selbst ein Kichern unterdrücken muss. Dann wendet er sich schnell wieder seinem Essen zu, in der für das Kind offenkundigen Absicht, die vorangegangene Interaktion vor der Mutter zu verbergen. Valerie wiederum wendet sich verzweifelt an ihre Mutter, die aber die Grimasse des Vaters nicht gesehen hat oder nicht gesehen haben will. Sie erwidert Valeries Blick mit kalter Enttäuschung. Als Valerie weinend fragt, warum ihr Stiefvater sie verhöhnt habe, streitet dieser nicht nur alles empört ab, sondern deutet Valeries Vorwurf in den Beweis ihrer eigenen Verrücktheit um. Die Mutter tadelt mit nun deutlich spürbarer Wut Valeries vermeintlichen Versuch, von ihren eigenen Verfehlungen mit einem durchsichtigen Spaltungsversuch abzulenken, und steht auf, um ihr Essen zu beenden. Als sie dem Tisch den Rücken zuwendet, wiederholt ihr Stiefvater die Grimasse und zwinkert Valerie zu. […]
Ohne weitere Einschränkung und abweichend von der bereits vorliegenden psychotherapeutischen Anamnese lässt sich hier eine vorgelagerte Dysthymie ( ICD -10 F 34.1) sowie eine paranoide Schizophrenie ( ICD -10 F 20.0) diagnostizieren. Gesprächstherapeutische Behandlung im Verbund mit geeigneter Medikation (beispielsweise Olanzapin, unterstützt von Fluanxol als intramuskuläre Depotinjektion) ist indiziert.
3
Die U-Bahn rumpelt und wackelt, Valerie hat sich ganz hinten in eine Ecke gestellt. Seit einer ganzen Weile schon halten sich die beiden Aktionäre immer knapp außerhalb ihres Blickfelds. Es hört sich an, als würden sie sich ganz entspannt miteinander unterhalten, aber in Wirklichkeit reden sie über sie; allerdings, wann immer sie sich umdreht, ist da nur die Straßenfegerverkäuferin, der sie diesmal kein Geld gibt. Sie sagen, dass Valerie ihre Arbeit zu Recht verloren hat, weil sie nicht vernünftig arbeitet , so der eine, und der andere ergänzt, ja, sie ist sehr faul , und sie kann, wenn sie es auch nicht sehen kann, förmlich hören , dass sie gewichtig mit ihren Köpfen nicken, und als sie sagt, »Ey, was wollt ihr eigentlich von mir«, lässt die Straßenfegerverkäuferin plötzlich von ihr ab, und die Blicke der Fahrgäste, die sich auf sie geheftet hatten, wenden sich ebenfalls ab, und die Aktionäre sagen abwechselnd faul und undankbar , wie Waldorf und Statler aus der Muppet Show, nur bösartiger. Die Fahrgäste müssen all diese Lügen über sie mit anhören, sie können ja nicht wissen, was Lüge ist und was Wahrheit, und deswegen ist es schlimm, dass sich die Aktionäre hier und jetzt über ihren schlechten Charakter beschweren: dass sie zu wenig aufräumt, dass sie Anweisungen nicht versteht, dass sie auf Bitten nicht reagiert, dass sie Rechnungen nicht bezahlt. Und schon kann Valerie sehen, dass einzelne Fahrgäste über ihren Zeitungen und Telefonen und MP 3-Playern den Kopf schütteln, und ihre Beteuerungen werden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, während sich die Aktionäre mittlerweile nicht länger bei den Charakterfragen aufhalten, sondern ihren Stiefvater ins Spiel bringen. Ihre Stimmen nehmen einen verschwörerischen Ton an, und die Fahrgäste beugen sich neugierig vor, um besser zu verstehen, wie die Aktionäre sich zuraunen: Und hat sie nicht letztlich sogar ihren eigenen Vater …? , und weiter reden sie gar nicht, weil es anscheinend zu schrecklich ist, um es laut auszusprechen. Dann kommt schon ihre Station, an der sie aussteigt, obwohl sie falsch beschriftet ist, denn es müsste eigentlich
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