Gibraltar
»Mehringdamm« heißen, dort steht aber »Gneisenaustraße«, und als sie oben ist und die letzte Station zu Fuß geht und das Hotel Riehmers Hofgarten erreicht, da schwitzt sie in Strömen und denkt kurz den verwirrenden, aber vielleicht wichtigen Gedanken, dass die U-Bahn-Station Mehringdamm vielleicht doch richtig beschriftet war und das einzige Problem nur darin besteht, dass sie eine Station zu früh ausgestiegen ist.
»Setz dich hin und beruhig dich erst mal«, sagt Thomas, der aussieht, als hätte er schon geschlafen, aber wenn sie wüsste, wie das geht, sich beruhigen, dann hätte sie schon als Kind damit angefangen.
Dann nickt sie auf dem Sofa des Hotelzimmers ein bisschen ein, vielleicht hat Thomas ihr eine Beruhigungstablette gegeben. Alles verschwimmt in weichem Nebel. Woher kommt dieses Vertrauen?, fragt sie sich, bekommt aber keine Antwort darauf, von wem auch. Es ist nur ein kleines Zimmer, noch kleiner als ihre Wohnung, aber längst nicht so beengt. Thomas sitzt in dem kleinen Lichtkreis am Schreibtisch, hier ist sie sicher. Er sieht aus wie vor zwei Jahren, dieselben kurzen Haare, dieselben nichtssagenden Klamotten, dasselbe Gesicht, zu dem ihr immer nur einfällt, dass es ein liebes Gesicht ist, obwohl sich das so doof anhört, dass sie es sonst von niemandem denkt.
»Ich weiß nicht mehr weiter«, ein kleiner Satz, der einen langen Text ersparen soll und damit natürlich total überfordert ist.
»Du hast gesagt, dass du wieder Medikamente nimmst.«
»Sonst wäre ich jetzt nicht hier«, sagt sie, und das beruhigt ihn. Oder vielleicht beruhigt es ihn auch nicht, wer weiß, Thomas ist wie ein Fremder, wie ein Roboter, dessen nächste Bewegung unmöglich vorauszusagen ist. Es ist schön, sich einzubilden, dass er sie mag oder wenigstens mochte, aber leider ist das sehr schwer zu sagen, weil er eigentlich bloß freundlich zu dir ist, Valerie, freundlich wie zu einem Bäcker oder einer Putzfrau, da ist nichts an seiner Freundlichkeit, das irgendwie über höfliche Umgangsformen hinausreichen würde, und dennoch ist sie jetzt hier, und dennoch glaubst du, Valerie, dass da doch mehr ist. Warum glaubst du das, Valerie? Wie kommst du eigentlich darauf? Bist du vollkommen gestört?
»Komm, Valerie, du musst nicht weinen. Es ist okay.«
Er nimmt sie mit hinunter, kauft in einem Späti zwei Becher Tee in wabbeligen Plastikbechern, die kein Mensch anfassen und schon gar nicht halten kann, und dann sitzen sie zusammen im Hofgarten, der eng umstanden ist von den Mauern der umliegenden Gebäude. Es gibt dort eine Bank, sie setzen sich. Valerie fühlt sich bei alldem, als sei sie mit Helium gefüllt. Es ist still hier, bis auf das Zwitschern der Vögel. Thomas will sie nicht in seinem Zimmer haben, denkt sie, das ist die einzige Erklärung dafür, dass sie nachts um zwei auf irgendeiner Bank sitzen. »Du willst mich nicht in deinem Zimmer haben«, sagt sie.
»Ich kann dir nicht mehr sagen, Valerie. Es ist nicht passiert. Du musst zu einem Arzt gehen.« Darauf wiederum geht sie nicht ein, denn wenn sie jetzt anfangen, dieses Spiel zu spielen, dann wird sie bald überhaupt nicht mehr wissen, wo oben und unten ist.
»Ich bin nicht krank.« Sie weint. Sie dachte, er versteht sie; sie hofft es noch immer. Dass man in gewisser Hinsicht sagen könnte, es sei nicht passiert, weiß sie selber. Sie weiß das alles selber. Aber dass es niemanden geben soll, der ihr glaubt, wie es sich anfühlt, das ist … das ist so traurig .
»Ich möchte auf keinen Fall«, sagt Thomas, »dass sich das von damals wiederholt. Verstehst du? Und deswegen solltest du zu einem …«
» ICH WILL ABER NICHT ZU EINEM ARZT GEHEN , VERSTEHST DU DAS NICHT ?«
»Schon gut, Valerie. Schon gut.« Sie würde ihm das gern ersparen, ich will das gar nicht, Thomas, aber da ist nichts zu machen. Es schüttelt sie. Wenn er sie nur in den Arm nehmen könnte.
»Ich wüsste so gern, was ich –«
Dann eine ganze Weile Stille. Es wird kalt, aber das ist vielleicht nur Einbildung; sie zittert nicht. In gewisser Weise sind genau solche Sachen das Problem. Sie würde ihm gern erklären, dass ihr kalt ist, dass sie aber nicht weiß, ob sie zittern darf, nur werden diese Dinge sehr schnell sehr schwierig, wenn man über sie spricht, also lässt sie es lieber bleiben.
Irgendwann sagt Thomas: »Ich möchte, dass du mir jetzt ganz genau zuhörst, Valerie. Ich weiß, wo dein Stiefvater ist. Er ist in
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