Gibraltar
Valerie.«
»Und wohin ist er verreist?«
»Ich weiß es nicht.«
Das Gute ist, dass ihre Mutter das Ticket bezahlt hat, sie hätte sonst nämlich keine Ahnung gehabt, wie sie nach Berlin zurückkommen sollte. Nicht so gut ist natürlich, dass ihre Mutter jetzt neben ihr im Zug sitzt. Das ist sogar das Hauptproblem. Ihre Mutter hat nämlich die lästige Angewohnheit, sie ab etwa der zweiten Stunde, die sie miteinander verbringen, wahnsinnig zu machen, und das ist ja jetzt schon satte drei Tage her. Wahnsinnig nicht im Sinne von irre, denn irre ist sie ja schon, sondern wahnsinnig im Sinne von wahnsinnig . Es fängt mal damit an, dass ihre Mutter sie fragt, ob sie nicht ihre Mütze abnehmen kann, was sich nach Valeries Ansicht von allein beantwortet, und zwar mit einem klaren Nein. Dann zeigt sie durch jede noch so kleine Bewegung, dass irgendwas sie stört, also der Sitz, die lauten Durchsagen in schlechtem Englisch oder die Flatulenz irgendeines Fahrgastes, und dass sie es ganz generell unter ihrer Würde findet, mit der Eisenbahn zu fahren. Schon allein, dass sie Eisenbahn sagt, macht Valerie wahnsinnig. Wenn ein Fahrgast sich zu laut mit seinem Telefon unterhält, dann legt ihre Mutter die Hand auf Valeries Arm und wirft ihr einen tröstlichen Schrägstrich aufmunternden Schrägstrich verbündeten Blick zu, so als wäre Valerie diejenige, die sich über das Telefongespräch aufregen würde, und nicht sie selbst. Valerie bleibt dann nichts anderes übrig, als ihren Arm wegzuziehen. Überhaupt guckt sie die ganze Zeit aus dem Fenster, wo sie dann allerdings ihre Mutter als Spiegelung sieht. Der Kaffee schmeckt ihrer Mutter nicht, und dass man das Ticket ein zweites Mal vorzeigen muss, findet sie unzumutbar. Trotzdem ist sie zu dem jungen Mann, der das Ticket von ihr sehen will, sehr freundlich, geradezu scheißfreundlich . »Findest du auch, dass die Luft hier so schlecht ist? Die Luft ist hier so schlecht«, fragt sie, was Valerie gleich die nächste wahnsinnig machende Eigenschaft ihrer Mutter anzeigt, nämlich Fragen zu stellen und dann das Gefragte gleich im Anschluss zu behaupten , als hätte die Äußerung der Frage schon genügt, um zweifelsfreie Tatsachen zu schaffen. Irgendwo weiter hinten behauptet jemand flüsternd, dass das doch alles total krank sei, und Valerie ist geneigt, das zu unterschreiben, auch wenn sie nicht genau weiß, wer überhaupt gemeint ist, geschweige denn, wer spricht.
Ein richtiges Gespräch zwischen ihnen findet nicht statt. Allerdings bemüht sich Valerie, eins zu führen. Es geht alles leichter und schneller vorbei, wenn man spricht. Sie fragt: »Warum musst du da jetzt noch mal unbedingt hin?«
Ihre Mutter atmet schwer und schließt halb die Augenlider und sagt dann ganz langsam: »Ich habe dir das doch jetzt schon fünf Mal erklärt, Valerie. Der Chef von Bernhard ist sehr krank geworden.«
Das ist nicht die Antwort auf ihre Frage. »Das weiß ich ja.«
»Weißt du, es macht einfach keinen Spaß , wenn ich dir alles zehn Mal erzählen muss und du mir nicht zuhörst.«
»Das Leben ist halt kein Ponyhof«, sagt Valerie, was nun wirklich völlig bescheuert ist, wirklich, das hilft jetzt keinem weiter, Valerie.
»Ich kenne einfach den Herrn Alberts schon sehr lange, und es ist für mich selbstverständlich –«
Der Name öffnet eine Tür bei Valerie. Die Tür war nicht hinter einem falschen Schrank oder einem Spiegel versteckt, sondern die ganze Zeit da; sie hat sie bloß nicht gesehen. Jetzt drückt sie die Klinke, und die Tür ist unverschlossen.
»Kennst du seinen Sohn?«, fragt Valerie, auch wenn das vielleicht bedeutet, damit Themen anzuschneiden, die ihre Mutter eigentlich nichts angehen, aber Valerie denkt, vielleicht ist es ja genau das, was die Dinge zwischen ihnen so schwierig macht, dass sie nämlich so gut wie überhaupt nichts voneinander wissen. Jedenfalls nichts Richtiges.
»Wieso fragst du mich das?«
»Wieso soll ich dich das denn nicht fragen, das ist doch wohl eine ganz normale Frage, was verstehst du daran nicht?«
»Ich meine, wie kommst du denn auf die Frage?«
Sofort hat Valerie nicht mehr die geringste Lust, ihrer Mutter irgendwas von Thomas zu erzählen, und sie ist froh, es bisher nicht getan zu haben, weil es nämlich immer dasselbe ist, wenn sie etwas von sich erzählt, dass nämlich –
»… seinen Sohn?«
»Was?«
»Ich sagte – also, Valerie, du musst wirklich lernen, mir zuzuhören –, woher
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